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CH TRÄUME, ALSO BIN ICH
EIN MANIFEST

Matthias Seiffert

Was ist des Menschen Feder? Was treibt ihn voran, bewegt und nährt ihn? Eine seltsame Kraft ist es. Wer aus ihr schöpft, nennt sie bald Bestimmung, Berufung, fühlt er doch Verlangen und Leidenschaft. Da gärt und schwelt es in ihm. Keine Ruhe soll er mehr finden, denn alles in ihm drängt nach Erfüllung.
Die ärmsten unter den Menschen sind die Asketen. Nach Emanzipation streben sie, Entfremdung aber finden sie. Denn Verstand und Geist sind dem Lebendigen nur Werkzeug, welches er nutzt, um das zu erreichen, wonach er sich sehnt. Wer den Geist einem Herscher gleich über die Seele stellt, verliert rasch alle Sehnsucht, die er im Herzen trug. Am Ende wird er zum jämmerlichen Geschöpf, das nicht mehr weiß, wozu es auf der Welt ist. Denn hört er auch das Blut durch seine Ohren rauschen und sieht er auch den Regen fallen, die Pflanzen sprießen, schaut er das Wachsen und gedeihen, das Welken und Vergehen, all das sagt ihm nichts mehr. Leere umhüllt ihn, und es ist nichts mehr, darin er gebettet wäre.
Jeder Wurm, jeder Halm weiß um sich selbst, spürt er seinen Saft doch fließen und Elemente seinen Leib umspülen. Das Maß der Vernunft mag uns scheiden. Das Spüren der eigenen Lebendigkeit aber eint uns.
Alle Gelehrsamkeit strebt nach Abstraktion und einer letzten Wahrheit, die sie im vollkommenen Objektivieren zu finden glaubt, Eine alte Narretei. Denn was überall zu jeder Zeit für alle und jeden gleichermaßen gültig ist, bleibt ein ödes Nichts. Dieses trübe Land kennt weder Gut noch Böse, weder Zorn noch Barmherzigkeit. Denn was immer sich ereignen mag: objektive Betroffenheit gibt es nicht. Ihr aber fällt die Aufgabe zu, dem Menschen Leben einzuhauchen. Der Asket weiß weder, was Freiheit, Liebe, noch was Haß und Rachlust

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 3

Last updated:
20.05.00

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bedeuten; der fühlende, der spürende, der empfindsame Mensch aber wird in ihrem Namen leben und sterben. Wichtig ist die Rede der Ratio. Dank ihrer erbauen wir Städte, kreuzen Ozeane und reisen zu den Sternen. Stumm nur bleibt sie, fragt man danach, warum wir das tun. Die Dichtung allein mag Manchem Antwort geben. Hierin wohnt die Aufgabe der Literatur, ja der Zweck aller Kunst überhaupt: bewegen, rühren, aufrütteln, schmeicheln und erschrecken, streicheln und aufwiegeln. Damit niemand das Träumen verlernt. Wer nicht mehr träumt, braucht auch nicht mehr zu denken.

Mummenschanz 0 / Mai 95 / Seite 4

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