Euer Deutschland: Ein Volksfest ohne Thema

Meine Generation muß sich nicht alles gefallen lassen - und schon gar nicht von krähenden Besserwissern mit Professorengehalt und 68er-Laufbahn. "Ihr habt nicht einmal ein Bewußtsein davon, daß Ihr nützliche Idioten für andere seid," mußten sich Studenten Ende 1997 von einem kregel krakeelenden Soziologieprofessor Bernd Rabehl anhören. Besserwisserisch belehrte Rabehl im STERN 50/97 eine Handvoll ernst dreinblickender Studentenprotestler: "Ihr laßt Euch vollsabbern von den Staatsekretären und den Professoren."
Jawoll, Herr Professor. Aber jetzt wischen Sie sich mal den Schaum vom Mund und hören Sie gut zu. Ihre Generation, Eure mythische 68er-Generation, klagt seit dreißig Jahren, und seit einiger Zeit auch über meine "lahme Generation". Ihr beschwert Euch, daß wir nicht aufstehen und "unsere Großväter morden". Nun, lieber Herr Professor Rabehl und gleichgesinnte Zeitgeistgenossen, wir sind zu gut verzogen und zu verwöhnt.
(redaktionelle Anmerkung: ‘zu gut verzogen’ meine ich so)
Das meine ich ernst. Ihr Achtundsechziger, unsere Eltern- und Lehrerinnengeneration, seid die WeltverbesserungssoldatInnen, die für eine gerechtere Welt kämpften und Eltern wurden, die es zu gut mit uns gemeint haben. Heute wundert Ihr Euch, warum uns Eure guten Wünsche in der Mehrheit eigentlich egal sind.

Ihr habt uns, verdammt nochmal, zu sehr verwöhnt!
Vielleicht ist es noch zu früh für dieses Buch, denn es beschäftigt sich mit gesellschaftlichem Problem-Blabla, und Problemlösung ist unsere Sache nicht, weil wir in einem Staat leben, in dem Probleme für uns immer bereinigt wurden. Wir sind - noch, so hoffe und so glaube ich - eine Generation der Verwöhnten, der Verspielten, der Eigenwilligen, und nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Das Eigenengagement zu vieler unserer Generation 89-plus-X beschränkt sich - noch, so glaube ich - darauf, den Eltern Geld oder Computer, und dem Staat ein kostenloses Magisterstudium abzuschwatzen. Wir leben in einer Zeit, in der Ihr uns Sorgentelefone einrichtet, wenn ein pickeliger Sänger namens Robby seine Band verläßt, und in der Ihr uns in Talk-Shows fragt, warum wir denn unser Stimmrecht nicht wahrnehmen. Das ist alles schade, aber das liegt auch am Lauf der Zeit. Unsere Zukunft scheint uns privat bestimmt, nicht durch gesellschaftliches Wohl und Wehe. Und an dieser Einschätzung habt Ihr Achtundsechziger gehörige Schuld.
Wozu sollten wir Kinder der 16jährigen Kohl-Ära denn Verantwortung in Politik und Wahlen übernehmen? Wir Kinder Euerer Generation baden doch im trägen Überfluß: Freundeskreis, Designerklamotten, Partys am Wochenende, Kurzurlaub in New York zu Silvester. Wir leben im Jetzt. Scheinbar nichts bedroht diesen privaten Zustand. Aufregendes passiert nicht bei Wahlen oder in den Abendnachrichten, sondern im Privatleben. Allein dort tragen wir endlich einmal Verantwortung für irgend etwas und irgend jemanden - wenn auch nur für unsere neue Frisur und uns selbst. Dafür nennt Ihr uns Egoisten. Aber Action und Fun interessierten junge Leute immer mehr als Sicherheit und Regeln - das müßtet Ihr Fritz-Teufel-Fans der Achtundsechziger-Generation ja wissen. Trockener: Begeisternde Perspektiven haben wir im Privatleben, nicht im öffentlichen Bereich.
Wir rebellieren nicht - und das irritiert Eure intellektuellen Restbestände im Feuilleton der ZEIT und bei den Überbleibseln der taz. Mit viel Mühe gelingt Euch gelegentlich eine Interpretation, die Euch beruhigt: Dann sind unsere unterschiedlichen, unangepaßten Lebensstile nicht Ausdruck unserer Selbstverwirklichung, sondern in Wahrheit ein stiller politischen Protest gegen die komplizierte, ungerechte, im eigenen Saft schmorende Gesellschaft. So hättet Ihr uns gerne, auch zur Beruhigung Eures eigenen Gewissens. Aber das ist natürlich Quatsch. Dieser "Protest" unserer Generation - wo alles erlaubt ist: gegen was denn bitte? - ist so individuell und beliebig, daß er Punks, Ravern und Skins gleichermaßen zugestanden wird. Geeinigt auf so kleine Nenner wie Love and Peace bei der Berliner Love-Parade, kostet er nur Euren teuren fürsorglichen Staat etwas, der selbstverständlich den ganzen bunten Abfall wegräumt. Aber da sind Spaß und Aufmerksamkeit schon beim nächsten Rave - denn nichts ist älter als das, was gestern hip war. Der Larve des „Protestes" entkriecht das schlichte Desinteresse des alles Erlaubten.

Deutschland: ein Volksfest
Die Love-Parade, angemeldet als politische Demonstration, ist nicht einmal so politisch wie wahlweise Eure Stammtische am Oktoberfest oder die VIP-Lounge beim Weißenhof-Tennisturnier, Treff jener Alt-68er SPD-Kameraden aus  dem Lehrerkollegium meines Gymnasiums. Zusammengenommen, beschreiben diese drei 'events' eine politische Landschaft in Deutschland, die einem großen Volksfest gleicht: viel buntes Treiben und ein Stimmengewirr ohne Richtung oder Zentrum. In einem Zelt sitzt eine Orgel vor Helmut Kohl, und was der spielt, leiert immer monotoner. Im Nachbarzelt erzählt Oskar Lafontaine das alte sozialdemokratische Märchen von betrogenen Bergarbeitern und Rentnern, und auf der grünen Wiese hält Joseph Fischer Hof. Er plaudert weniger über die Reduzierung der Bundeswehr als über die seines Bauchumfangs. Und am Rand vom Fest steht Rudolf Scharping und reportert von der Tour de France. Ob ihm jemand zuhört, ist nicht bekannt.
Natürlich gefällt mir dieses Volksfest nicht. Natürlich bin ich enttäuscht. Natürlich würde ich gerne in einer Zeit leben, in der die Herzen der Menschen von Utopien und öffentlichen Idealen gestreichelt werden, und in der die demokratisch verfaßte Hingabe an Visionen nicht nur den Geist in eine berauschende Zukunft, sondern auch die Füße auf die Straße trägt. In der gemeinsamer Fortschritt sozusagen im Gleichmarsch der Demonstrationen für das Bessere in uns allen beginnt. Ich würde gerne morgens aufwachen mit Hoffnung in der Brust und abends zu Bett gehen mit einem Traum von der gerechteren Gesellschaft. Und deshalb, liebe Achtundsechziger, liebe ich Eure nordamerikanischen Zeitgenossen sehr viel mehr als Euren verspießten deutschen Kampf um eine Anstellung als aufgeklärte Geschichtslehrer im deutschen Staatsdienst.
Ich liebe den poetischen, den rebellischen Robert Kennedy und seine Rede an die Jugend, sein Zitat: "Manche Menschen sehen die Dinge, wie sie sind und fragen nach dem Warum. Ich sehe Dinge, die niemals waren, und frage: warum nicht?" Ich liebe, sentimental vielleicht, James Chaney, Andrew Goodman und Mickey Schwerner, die der Klu-Klux-Klan 1964 auf einer einsamen Straße in Mississippi für ihren Kampf um Bürgerrechte ermordet hat. Und ich liebe Martin Luther King, der gesagt hat: "Wenn Du die Hoffnung verlierst, verlierst Du irgendwie auch die Lebenskraft, die dich vorantreibt, du verlierst diesen Mut, überhaupt da zu sein, diese Eigenschaft, die dir hilft, trotz allem weiter zu machen. Und so habe ich heute noch immer einen Traum." Wie abgegriffen, lieber Professor Rabehl, klingen dagegen Ihre Parolen vom Muff von tausend Jahren unter den Talaren, in denen jetzt seit dreißig Jahren Ihr eigener Sesselhintern schwitzt?
Kurz kannten wir diese Euphorie, nach den Sternen greifen und sie in Kerzen erstrahlen lassen zu können. Im Frühjahr 1989 demonstrierten chinesische Studenten für liberale Ideen, im Herbst setzten sie sich in ganz Osteuropa durch. Idealismus bezwang überbrachte Systeme, Zivilcourage stoppte Armeen, Poeten wurden Präsidenten. Ich war 16 idealistische Jahre alt, fasziniert von Politik, und trat einer Partei bei. Bis zum 3. Oktober 1990 versprachen die frischen Winde der Freiheit einen Neuanfang für Europa und besonders für uns Deutsche. Jeder Montag war ein Feiertag der Freiheit. Und bis zum 3. Oktober haben wir die Ostdeutschen dafür bewundert. Seitdem sie uns aber auf der Tasche liegen, wollen wir von ihren Idealen nichts mehr wissen. Die westdeutsche Realität der Marke Kohl hat uns wieder und liegt wie Mehltau über allem. Die Realität Kohl, das bedeutet Opposition inklusive, was diejenigen ostdeutschen Bürgerrechtler jetzt endlich kapiert haben, die CDU-Mitglieder werden. Die roten Programme der Sozialdemokratie sind sehr verblümt die von Kohls sozialer Gestik, und sicherlich weder progressiv noch originell. Kandidat Schröder kann nur trotz dieser Programme gewinnen - und wenn der andere 68-er, Oskar Lafontaine, sich nicht als moderner Hagen von Tronje zelebriert. Die Grünen sind das gute Gewissen der städtischen Mittelklasse, die schwarz lebt und grün wählt. Die F.D.P. hat zwar mit dem Wiesbadener Programm den radikalsten Gegenentwurf zu den heutigen Verhältnissen vorgelegt, benimmt sich aber immer wieder gern als Kohls liberale Wählerparty, der der große Meister ab und an ein Solidaritätshäppchen spendiert. Und Gregor Gysi ist der Clown, das muntere Alibi der müden deutschen Volksfestdemokratie.

Ihr sabbert uns voll mit Eurem 68-er Mythos
So sieht unsere politische Landschaft aus. Darin verlaufen haben sich kürzlich auch ein paar Studenten, die, Kinder Eurer Generation, für eine kostenlose, unbegrenzte Studienzeit streikten. Heissa, war das ein Feiertag für Sie alten Fahnenträger, Professor Rabehl und gleichgesinnte Zeitgeistgenossen: endlich wieder Diskurs mit der Jugend! Endlich steht sie auf gegen uns, diese müde Generation! Altväterlich gute Tips, strategieerfahren und besserwisserisch zugleich, haben die Professoren da gegluckst, und Sie, Prof. Rabehl, sind für diesen Beitrag meine schönste Fallstudie. Wie sagten Sie im STERN 50/97 als "Apo-Führer von 1968 und heute Soziologieprofessor in Berlin": "Wir wollten vor allem nicht die Professorenuniversität. Ihr demonstriert ja mit den Professoren." Sie, Rabehl, seien zwar "nicht der Demagoge, der die Ziele der Studenten aufschüttet" - "es wäre kurios wenn ich als Alt-Revoluzzer hier Ratschläge gäbe", aber meine Generation lasse sich "vollsabbern von den Staatssekretären und den Professoren", und das ohne Bewußtsein für unseren Status als "nützliche Idioten für andere." Eine Jugend müsse sich definieren über Protest, "sonst werdet ihr autistische Schlappies." Daher Ihr dringender Rat: "Man muß sehen, wie man einen Streik sehr moderat eskalieren kann."
Sabber, sabber, sabber: Alt-68er in ihrem Element. Die Antwort des Studenten Florian von Alemann: "Was hat denn ’68 bewirkt? Mich kotzt der Vergleich an. Die 68-er sind heute die Generation, die mir am unangenehmsten ist. Weil die nämlich dasitzen und die Studenten ungefragt duzen. In Wirklichkeit sind es die, die es sich am gemütlichsten gemacht haben...".  So erfrischend dieser Meinungsaustausch natürlich war anläßlich studentischer Proteste, so schnell war er auch beendet. Weihnachten kam dann dazwischen und der Erstickungstod in der Kohl’schen Umarmung der Protestler. Papa Kohl, an den Ihr Euch gerne gewöhnt habt, war mal wieder seine eigene Opposition, und meine Generation war dann doch noch einmal zu bequem.

Stillstand, Nabelschau, überforderter Staat
In anderen Worten, Euer Marsch durch die Institutionen hat zum Stillstand geführt. Vor dreißig Jahren hat Euch das heimelige unpolitische Familienleben der Nachkriegszeit nicht mehr gefallen - die Wolldecke über der Couch, die Blümchengardine vor dem Fenster, der Bauch im Wirtschaftswunder der Fünfziger und Sechziger und der Geist noch auf dem Exerzierplatz der dreißiger Jahre. Kräftig durchgelüftet habt Ihr - das war sicher nötig. Alles wurde "Politik" und "öffentlich", oder mindestens "gegenöffentlich". Alte Mauern habt Ihr eingerissen, und alle Freiheitskämpfer wurden Brüder, in Nicaragua, Cuba, Köln oder Vietnam. Das Fest des Lebens wurde vom miefigen Wohnzimmer auf die Straße verlegt und ins Theater. Ihr habt die Institutionen gestürmt, und da sitzt Ihr heute noch: In einer Sitzblockade, auf einer 'Hocketse', wie wir Schwaben ein Straßenfest nennen: "Da hocken sie". Und zwar verbraucht, zynisch und ideenlos, aber sich selbst feiernd. Deutschland heute ist ein Volksfest ohne Thema, und Ihr wundert Euch über den unpolitischen Nachwuchs.
Der Umzug vom Wohnzimmer auf die Straße, von der Couch aufs Volksfest hat im Endeffekt Deutschland nicht politischer gemacht. Die persönliche Nabelschau und der öffentliche Narzißmus sind populärer geworden. Dabei wurde erstens die politische Kultur beliebiger, zum zweiten habt Ihr den Staatsapparat überlastet.
Zum ersten: Selbstverwirklichung war Euer Zauberwort und ist heute noch die Grundidee der politischen Kultur. Euer Kampf richtete sich gegen die Enge Eurer Zeit, aber nicht gegen die Enge der Herzen. Politik wurde zum Happening, zum Teil der Selbstinszenierung. Aus Euren Kommunen kroch die spießige FKK-Kultur, die die Nazis schon pflegten. In Euren Kinderläden habt Ihr uns antiautoritär erzogen - mit deutscher Gründlichkeit. Wir durften immer alles. Und heute wundert Ihr Euch, daß wir von Euch nichts mehr wollen, daß wir zufrieden sind mit uns. Daß wir uns wohl fühlen auf diesem Volksfest.
Alle Tabus habt Ihr gebrochen. Alles ist erlaubt, nichts ist verbindlich. Am wenigsten die Realität des bunten bilderrauschenden „Infotainment", veranstaltet für den nach seinem Tennismatch auf dem Sofa liegenden Achtundsechziger. Und natürlich sind wir Jungen schon auch für alles, was umweltfreundlich und sozial ist. Doch Greenpeace könnte auch eine Rockgruppe sein, die Politiker Soap-opera-Stars oder Celebreties wie der Spätachtundsechziger Bill Clinton. Das würde an ihrem Stellenwert nichts ändern - wir konsumieren sie wie die umweltfreundliche und soziale SPD des Techno-tanzenden Lafontaine und der Pro- und Contra-schwätzenden Andrea Nahles. Und irgendwann wird's langweilig. Dann wechselt die Mode, und wir zur nächsten Attraktion.
Zweitens: Der Staat, den Ihr erbaut habt, der ändert sich leider nicht. In Eurem Bestreben der privaten Selbstverwirklichung habt Ihr dem Staat, der Öffentlichkeit, die Realisierung aller Eurer Ideale überantwortet: Soziale Gerechtigkeit, Vollbeschäftigung, Sicherheit in allen Lebenslagen. Lebensrisiken, Verantwortung habt Ihr staatlich kollektiviert, abgeschoben. Den Spaß habt Ihr privatisiert - und seid dann gut essen gegangen. In der Toskana, wo Ihr zunächst noch Bloch, bald aber Simmel gelesen habt. Und später am Gardasee gab's dann schon Kabelfernsehen.

Der Marsch durch die Institutionen diente Eurem Bausparvertrag
Eine Öffentlichkeit erfinden, sie im Sturm erobern, Ideale pflanzen und dann die Pflege einem zunehmend sozialistischen Nationalstaat überlassen, sich zurückziehen: das kann meiner Generation nicht als Vorbild dienen. Denn in Eurer politischen Kultur habt Ihr die Ethik einer persönlichen Verantwortung, einer Mitmenschlichkeit so überflüssig gemacht, daß sie im Lauf der Zeit den Bach hinunterging. Es gibt sie ja noch, die dunklen Seiten des Lebens in Deutschland: Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Mühsal, Kummer, sogar Todesangst. Aber Ihr habt dafür gesorgt, daß wir, Eure Kinder, die dunklen Seiten des Lebens nicht kennen, weil das Sozialamt und die Bundesanstalt für Arbeit dafür da sind. Wo also sollten wir das Gefühl ausgebildet haben, aufgerufen zu sein in unserer eigenen Verantwortung, wo waren wir je ethisch herausgefordert - außer in Klassenarbeiten im Ethikunterricht? Wo haben wir gelernt, "Halt" zu schreien, und das gut begründen zu können? Habt nicht Ihr selbst Eure moralische Verantwortung abgegeben an soziale Einrichtungen des Staates?
Ja, ich sage: Die gründlichen deutschen Ämter haben uns dem Leben und der Verantwortung "entfremdet". Sie sind die Verwalter Eures moralischen Bankrotts. Wer arm ist, wird ein Aktenzeichen auf dem Amt. Wird zum Bittsteller auf dem Weg zu einer kafkaeske Anzahl von 158 verschiedenen Sozialleistungen in 38 verschiedenen Ämtern. Wer heute Arbeit sucht, kämpft gegen Gesetze, die seine Einstellung erschweren, weil sie die Arbeitenden schützen - diese ‘soziale’ Gesetzgebung habt Ihr Gutmenschen aus der 68er-Generation zu verantworten. Die Verwaltung sozialer Probleme ist eine mathematische Angelegenheit, aber kein mitmenschliches Anliegen mehr. Solidarität wird Eurer Auffassung nach am Wahltag gewählt, aber nicht mehr jeden Tag gelebt. Bezahlen wir für Euren moralischen Bankrott, für Eure heile Welt nicht zu teuer?
Eine Staatsquote habt Ihr erreicht, die ist sozialistisch, und ein Haushaltsloch, das ist enorm. Eure Stahlarbeiter verarscht Ihr seit zwanzig Jahren mit der Unwahrheit und staatlichen Subventionen, die wir später werden abzahlen müssen. Euer naive Glaube an Vater Staat, liebe Achtundsechziger, an den Vater Staat und seine Fähigkeiten, ein wunderbares Leben mit Vollbeschäftigung, totaler Gerechtigkeit, Universitätsabschluß und Eierkuchen für alle zu garantieren, hat uns heute diese hohe Staatsquote beschert, diesen Gesetzes- und Bürokratiewust, überlaufene Unis - und letztendlich einen verdorbenen Magen. Katerstimmung in Deutschland.
Den Wohlstand der Aufbaugeneration nach dem Krieg habt Ihr staatlich zu verteilen gewußt. Von Euren Visionen ist außer der Potemkinschen Fassade eines bankrotten Sozialstaates und der Schauspielerei dieses Volksfestes nichts übrig geblieben. Euer "Marsch durch die Institutionen" diente keinen größeren öffentlichen Zielen, keiner moralisch inspirierten Vision mehr, sondern Eurem Bausparvertrag und unserer problemfreien Kindheit. Die Originellen unter Euch haben sich gegen Kohl noch ein bißchen gewehrt - mit "Birnen"-Witzen. Und langsam wurde Kohl dann auch für Euch wählbar. Ihr seid Materialisten, die heute mit denen zu Mittag essen, die sie gestern noch als Spekulanten beschimpft haben, die sich wie Gerhard Schröder als Väter scheiden lassen, und die sich wie Lafontaine einen französischen Koch halten.
Die guten alten 68er-Zeiten, die Ihr dieses Jahr im Spiegel und anderen kritischen Aktivistenblättern noch einmal hochleben laßt, sind vorbei. Und gab es damals noch klare Gegner wie das Unternehmen Springer, so ist's heute der innere Schweinehund: Laufen wir - oder nehmen wir das Auto zum Bild-Zeitungsmann hinter der Tempo-30-Zone an der Ecke, und wenn ja, den Erst- oder Zweitwagen - beide ja mit Kat, wegen der Umwelt? Ach, Ihr Arrivierten, was seid Ihr müde...
Vielleicht würdet Ihr ja gerne etwas ändern - aber hier scheint ja irgendwie kein Diskurs mehr möglich, geschweige denn ein herrschaftsfreier, weil in Deutschland Politik klingt wie ein unsauber eingestelltes Radio.

Mehr Mitmenschlichkeit, weniger Staat!
Nicht mehr lange, wenn es nach mir ginge. Es ist an der Zeit für meine Generation, sich aus der Unmündigkeit Eurer Umarmung zu befreien, die Initiative zu ergreifen und nicht länger anzuerkennen, das Ihr die selbstgekürten, heimlichen demokratischen Helden der Bundesrepublik sein wollt. Euer selbstgerechter Mythos, Eure 68er-Legende demokratischer Sternstunden, kotzt mich an. Ich glaube, das meine Generation die erste vernünftig demokratische werden wird.
Zunächst will ich kurz danken, dann fordern. Liebe Mütter und Väter, ich danke Euch für ein ungezwungeneres Klima in unserer Gesellschaft, für mehr Toleranz. Aber das war's auch schon. Ich fordere mehr Mitmenschlichkeit und weniger Staat, und rufe in den Zeugenstand Alexis de Tocqueville, der das alles hat kommen sehen vor über 160 Jahren. Der ewigen Tendenz zur Gleichheit müsse jeden Tag wieder der Kampf für die Freiheit entgegengestellt werden, beobachtete er anhand der "Demokratie in Amerika". Entfliehen könnten wir der Tendenz zur Gleichheit und ihrer Logik der wohlfahrtsstaatlichen Gleichmacherei nur durch die Einübung basisdemokratischer Praktiken auf lokaler Ebene. Das Verlangen der demokratischen Seele nach Gleichheit, erkannte Tocqueville, stärke den starken Staat, den Staat, der für Gerechtigkeit durch Gleichheit sorgen wolle. Ein Staat also wie Eure Bundesrepublik, liebe Achtundsechziger, in der Ihr für jedes Problem ein Extra-Gesetz gefunden habt und Ausnahmen. Für diese Auswüchse sind die Steuergesetzgebung oder die erwähnten 158 verschiedenen Sozialleistungen ebenso ein Beispiel wie die steigende Staatsquote für den starken Staat. Und was sah Tocqueville als Ergebnis eines solchen Staates voraus? Vereinzelung, Rückzug ins Private. Schauet einander an und erkennet Euch!
Was verschrieb Tocqueville als Gegenmittel? Vor allem anderen die Begegnung auf lokaler Ebene, wo der Mensch dem Menschen ins Auge sieht; wo wir uns selbst erkennen und unsere Probleme realistisch einschätzen können; und wo wir so unsere postmoderne Einsamkeit, unser Single-Dasein verlassen, Bindungen aufbauen und Verantwortung erlernen. Kein Zufall ist übrigens, das Tocqueville auch die Familie und Religion für wichtige Einrichtungen hielt - beides hat Eure Generation zu verachten geliebt.
Und so schlage ich vor, zu einer Dialog-Ethik der persönlichen Verantwortung zurückzukehren, wie sie uns Martin Buber oder Emmanuel Lévinas eröffnet haben. Und Tocqueville folgend, müssen wir leider von Eurem starken Staat und seinen Leistungen Abschied nehmen. Das Fest für's Volk können wir uns nicht länger leisten. Die USA sind unter dem lernfähigen und progressiven Vietnamkriegsgegner Clinton eine wesentlich pragmatischere und erfolgreichere Nation. Von Clintons Vereinigten Staaten können wir viel lernen.

Ring im Ohr und Hoffnung im Herz: wir 89-plus-Xer sind unverkrampfte Demokraten
Und noch mehr fordere ich. Ich will, daß wir uns endlich den wahren Zukunftsthemen widmen. Ich rechne ich mich zum progressiven Teil der Jugend. Zu dem, die den Protest anführen will, zu denen, die zwar Boss-Klamotten und Ohrring tragen, aber Hoffnung im Herzen haben und Grips im Kopf. Die realistisch an die Sache herangehen und Euch den Rentenbeschiß vorrechnen und die Löcher im Haushalt und in der Ozonschicht. Ohne Idealismus kommen wir nicht weit. Ohne Pragmatismus bringen wir es zu nichts.
Es kommt - so hoffe ich (und was bin ich ohne Hoffnung, die ich von Euch nicht lernte) - eine Generation der Vernünftigen, eine, die Generationengerechtigkeit verlangt und die Hans Jonas genauso gut kennt wie den Haushalt des Bundes und die Finanzierbarkeit der Renten. Die auch in Zukunft Spaß haben möchte, ja. Aber bezahlbar. Moderat und generationengerecht. Es ist eine Generation, die ich die 89er-plus-X Generation nennen möchte, weil wir seit 1989 wieder Ideale haben können, und die Sozialstaatsreformen fordert und eine Steuerreform sowie eine Demokratiereform für mehr Bürgerbeteiligung. Wir fordern eine konsequente ökologische Marktwirtschaft, Bürgergeld, flexiblere Universitäten, und eine offene Diskussion über die Idee der Generationenverträge. Wir sind eine realistische Generation, die Ideen retten will. Und eine, die sich wieder moralisch entrüsten kann.
Wir Jungen kommen deshalb nicht mit pfeifendem Megaphon, strähnigem Haar und wirrem Blick wie Deutschlands erster professioneller Student Rudi Dutschke. Auch wenn das sicher Spaß machen würde! Unsere Herzen sehnen sich nach einer anderen Politik. Wir sehen Perspektiven in öffentlichen Angelegenheiten, für die sich Leidenschaft lohnt und Augenmaß. Aber wir wissen eben auch, daß öffentliche Angelegenheiten und eine Ethik der persönlichen Verantwortung und Mitmenschlichkeit etwas sind, an die sich eine von Euch privatisierte Generation erst wieder gewöhnen muß. Massenmobilisierung braucht Zeit, aber die Zeit ist auf unserer Seite.
Wir sind eine Generation, die sich demokratisch unaufregender Mittel bedient, die sachlich, aber bestimmt auftritt, Stiftungen gründet, Kongresse abhält. Vielleicht sind wir die erste Generation deutscher Demokraten, die mit ihrer demokratischen Freiheit unverkrampft umgeht. Und die die Balance finden kann zwischen privatem Spaß und öffentlicher Anstrengung.
Und die insofern von Euch doch gelernt hat: daß öffentliche Verantwortung persönlich ist und bleibt, und daß für uns alle schmerzhafte Entscheidungen notwendig sind, die wir gemeinsam treffen müssen, auch mit denen unserer Generationengenossen, die Ihr zu sehr verwöhnt habt, die sich noch nicht engagieren.
Wir Vernünftigen wollen garantiert nicht werden wie Ihr. Aber wir Vernünftigen und Ihr müden Altverrückten, eingeschlossen der Soziologieprofessor Rabehl: wir werden den Karren doch gemeinsam aus dem Dreck ziehen können, oder? Wartet's nicht ab. Faßt mit an!
 

Christopher Gohl sympathisiert mit den Liberalen in Baden-Württemberg, dem schwäbischen Unternehmen Hugo Boss, der Umweltorganisation Greenpeace, der Schüleraustauschorganisation AFS Interkulturelle Begegnungen, der Studentenverbindung Stuttgardia und mit den Philosophen Hans Jonas und Martin Buber. Zur Zeit studiert der 23 Jahre alte Politikwissenschaftsstudent aus Stuttgart an der Georgetown University in Washington, DC.