Das Konzept Hypertext und die ihm innewohnende Flüchtigkeit

Das Konzept des Hypertext/ der Hypermedien ist im Prinzip ein altbekanntes und verschiedene Metaphern werden zu seiner Beschreibung herangezogen: es ist vergleichbar dem Talmud mit seinen Kommentaren, Verweisen zu anderen Kommentaren usw. . Die einen sprechen beim Hypertext von vernetztem Text, die anderen Vergleichen ihn mit einem dreidimensionalen Raum innerhalb dessen man sich frei bewegen kann, wieder andere nennen Hypertext organisch oder bedienen sich bei Deleuze und verwenden den Wildwuchs, das Rhizom als beschreibendes Bild (s. Deleuze/ Guattari, 1992) . Essentielles Charakteristikum des Hypertext, und in all diesen Vergleichen und Bildern enthalten ist wohl dies: das Lesen eines solchen Textes erfolgt nicht länger linear, vielmehr springt man innerhalb des gesamten Textes von Ausgangstext zu Kommentar, zu einem Kommentar des Kommentars, wieder zum Ausgangstext und so weiter.

Hypertext, wie er heute im WWW präsentiert wird, besteht aus frei anwählbaren Textelementen, die mit einer beliebig großen Anzahl anderer Textelemente innerhalb des Netzwerkes verknüpft sind. Ursprünglich bezeichnet der Begriff Hypertext "non-sequential writing"(T. Nelson, zitiert in Jonasson, 1992) . Im WWW bedeutet Hypertext die gleichzeitige Präsenz von Textabschnitten, die nicht linear und nicht hierarchisch angeordnet sind. Jeder Textabschnitt ist jederzeit abrufbar. Man kann sagen, daß das gesamte WWW einen einzigen gigantischen Hypertext darstellt.

Hypertext besteht nicht zwangsläufig nur aus Text, vielmehr besteht die Möglichkeit jede Art von elektronisch prozessierbarer, digitalisierbarer Information, wie zum Beispiel Klänge, Bilder etc., mit einzubinden. Auf diese Art erweiterter Hypertext wird manchmal auch als Hypermedium bezeichnet, verbreiteter ist jedoch der Gebrauch des Begriffes Hypertext auch für die nicht rein textliche Variante. In dieser Arbeit wird, angepaßt an den Gebrauch, der sich durchgesetzt zu haben scheint, der Begriff Hypertext in seiner erweiterten Bedeutung verwandt, und kann sich sowohl auf rein textliche, als auch auf andere, etwa audiovisuelle Elemente einbindende, Varianten beziehen.

Hypertext besteht also aus verschiedenen 'Texträumen', die durch sogenannte Links verbunden sind. Diese Verbindungen können sowohl von Autoren, als auch von Benutzern hergestellt werden. Durch das Aktivieren eines Links kann man von einem "Textraum" zum anderen springen und sich so einen individuellen Weg durch den Hyperspace bahnen. Die beste Möglichkeit, Hypertext zu lesen ist ein interaktiver Bildschirm.

Im Hypertext findet sich, aufgrund der ihm innewohnenden Struktur, die einen individuellen 'Weg' durch den Hypertext ermöglicht, der der gesprochenen Sprache eigene Aspekt der Nicht-Fixiertheit, der Veränderlichkeit und der Flüchtigkeit wieder. Hypertext kann als Text in ständiger Bewegung, als ständiger Veränderung und Neuerschaffung unterworfen, verstanden werden. Er fließt, entsteht in dem Moment in dem er vom Nutzer zusammengestellt wird und verliert die soeben gewonnenen Form wieder, wenn der Nutzer einen neuen Text kreiert. Diese Flüchtigkeit und Veränderlichkeit ist dem Hypertext, wie noch gezeigt werden soll, sowohl für seine Form, als auch für den Inhalt zu eigen.

Hypertext ist somit nie stabil oder abgeschlossen. Jeder Nutzer, der sich zum Beispiel durch das WWW bewegt, "surft" sich seinen eigenen Weg und kreiert so seinen eigenen Text, der dadurch definiert ist, welchen Links ein User folgt, aber auch, welchen er nicht folgt. Der neu entstehende Text ordnet sich dabei in seiner Struktur der Denkweise, den Assoziationen und Interessen des Nutzers unter, nicht der Nutzer der Gedankenfolge eines Autoren, wie dies bei einem gedruckten Text der Fall ist.

Man kann so weit gehen, zu sagen, daß dem Hypertext nicht nur eine rein formale, sondern auch eine inhaltliche Veränderlichkeit innewohnt, die sowohl die Position der Autorschaft, als auch die Position der Leserschaft neu definiert: der Nutzer/Leser wird für die Zeit der Nutzung des Hypertextes - des WWW - selbst teilweise zum Autor eines Textes, seines Textes. Welche Begriffe mit welchen anderen Begriffen in Verbindung gebracht werden, liegt allein in der Hand des Nutzers. Für den Inhalt von Text bedeutet die dem Hypertext immanente Veränderlichkeit, daß der Nutzer eines Hypertextes nicht gezwungenermaßen einer Gedankenlinie eines Autors 'hinterherdenkt' ; er muß nicht auf einer vom Autoren vorgegebenen Bedeutungsebene bleiben; vielmehr bietet sich dem Nutzer im Hypertext auf ganz individueller Ebene die Möglichkeit, mehr - und andere - Bedeutung herzustellen, indem er sich von der dem schriftlich niedergelegten Text innewohnenden Linearität und der vorgedachten Hierarchie der Gedankengänge loslösen kann.

Ebenso wird die bislang gegebene Absolutheit der Autorenposition als der Position desjenigen, der dem Leser einen fertigen, in Form und Inhalt festgelegten Text stellt, bei der Autorschaft eines Hypertexts insofern reduziert, als der angebotene Text in seiner Form - wie z. B. die Reihenfolge von Kapiteln, Gedankengängen oder ähnlichem - nicht mehr so festgelegt ist, wie dies bei gedrucktem Text der Fall ist . In dem Moment, in dem sich der Nutzer aus dem Hypertext ausklinkt, oder er sich einem neuen Link zuwendet, sind wieder alle möglichen Kombinationen innerhalb des Hypertextgefüges offen, alle neuen Texte möglich: der während der Zeit der Nutzung entstandene Text hat sich verflüchtigt, die vom Leser geschaffene Textstruktur ist nicht mehr vorhanden oder durch Ergänzung verändert, für andere nicht mehr nachvollziehbar.

Lanham spricht in diesem Zusammenhang vom Computer als "fulfillment of social thought", insofern als der offene Text auf dem Bildschirm traditionelle Phantasien eines "master narrative" oder eines "definite reading" unterläuft, indem er dem Leser Möglichkeiten bietet, Schriftarten zu verändern, Ausschnitte zu wählen, den Text immer wieder neu zu arrangieren. Daraus resultiert "a body of work active, not passive, a canon not frozen in perfection but volatile with contending human motive" (Lanham, 1993).

Die Flüchtigkeit und Veränderlichkeit von Hypertext wird dadurch unterstützt, daß der jeweils vom einzelnen Nutzer kreierte Hypertext in den meisten Fällen lediglich als Anordnung von Pixeln auf dem Bildschirm dargestellt wird; ein Ausdruck der einzelnen Textabschnitte ist optional, eher die Ausnahme als die Regel. In dem Moment, da einzelne Textabschnitte ausgedruckt werden, wird der Hypertext in Printtext umgewandelt; er gewinnt dadurch Materialität, die vom Nutzer geschaffene Hypertextform wird in ihrer Eigenschaft des fließenden, veränderlichen jedoch reduziert und verändert dadurch, daß sie im Druck niedergelegt und fixiert wird, etwa so wie ein chemisches Element seinen Aggregatszustand ändert.


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