Selbstsysteme - Identitätserfahrungen im virtuellen Raum


"I Link, Therefore I Am"- Marc America, Hypertextual Consciousness
"Im Netz weiß keiner, daß sie ein Hund sind"-Mandel/ Van der Leun: Die 12 Gebote des Cyberspace



In diesem Kapitel möchte ich näher auf den Begriff der Identität im Kontext des Internet eingehen. Es erscheint einleuchtend, daß, angesichts der Omnipräsenz des Computers und der wachsenden Zahl von Menschen, die sich im Internet bewegen, das Medium Internet ebenso an der Ausbildung von Identität beteiligt ist, wie diejenigen Medien, die unsere Gesellschaft bereits prägten - um so mehr vielleicht, als dieses neue Medium seinen Nutzern eine wesentlich aktivere Rolle ermöglicht und auch abverlangt. Wie bereits erläutert, trägt der Nutzer dieses Medium zumindest einen Teil der Autorschaft, er ist in einer wesentlich aktiveren Weise an der Erschaffung von Inhalt des Mediums und an der Konstruktion von Bedeutung beteiligt, als dies etwa beim Fernsehen der Fall wäre. Wie wirkt sich aber die aktive Nutzung des Internet auf die Identität des Einzelnen aus? Bereits heute zeichnen sich in diesem Bereich Tendenzen ab, die darauf hinweisen, daß dem Begriff Identität im Online-Zeitalter neue und alte Inhalte in veränderter Zusammensetzung zukommen.

Es erscheint aufgrund der Vielzahl von Konnotationen und Nuancen, die der Begriff Identität in sich birgt, sinnvoll, einen kurzen Umriß dessen zu zeichnen, was im Zusammenhang dieser Arbeit mit Identität gemeint ist. Identität ist kein unverlierbarer Besitz und es gibt keine Garantie dafür, daß die Identität eines Menschen automatisch von Handlungspartnern über die Abfolge von Ereignissen hinweg anerkannt wird. Ebensowenig ist Identität ein festgelegtes, fixiertes Ding, das in stets unveränderlicher Form, als eine Art unantastbarer Kern des Selbst, das Zentrum einer Persönlichkeit darstellt:

"Identität wird 'gewahrt', 'aufrechterhalten' oder 'behauptet', und zwar sowohl gegen den Druck zur Anpassung an soziale Normen, als auch gegen die Überwältigung durch Bedürfnisse, die auf Befriedigung drängen"(Krappmann in Lenzen 1989)

Soziologische Ansätze gehen von der Identität als etwas nicht-abgeschlossenem, sicherem, als etwas was stets durch die Konfrontation mit neuen, sich oft widersprechenden Ansprüchen gefährdet ist. Man kann von einem dynamischen Selbst-System sprechen, das in Konfrontation und Reibung mit einer sich verändernden Umwelt und den damit einhergehenden Anforderungen an das Selbst-System sich entwickelt, anpaßt, alte Schemata verwirft um neue anzunehmen und so weiter. Der Identitätsbegriff steht dabei, je nach Akzentuierung und Festigung in der einzelnen Person zwischen den Rollen, die ein Mensch in Interaktion mit seiner Umwelt einnimmt, oder einzunehmen sich gezwungen oder veranlaßt fühlt und in der Art und Weise, wie er mit widersprüchlichen Normen und Bedürfnissen umgeht und zurechtkommt - kurz gesagt zwischen Verwirklichung innerer Bedürfnisse und Erfüllung von außen herangetragener Erwartungen.

Der Begriff der Identität ist eng verknüpft mit Begriffen der Interaktion und der Sozialisation, insofern als Identität als ein Ergebnis gelungener Sozialisation verstanden werden kann, in der das Subjekt soweit ausgebildet ist, daß es, trotz der nicht vollständigen Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und widersprüchlicher Normen fähig ist, zu kommunizieren und zu interagieren, ohne uninterpretiert und unreflektiert diesen von außen und innen auf es einströmenden Normen und Bedürfnissen nachzugeben. Mithin kann man sagen, daß der Erwerb kommunikativer Kompetenz, also das Aneignen von sprachlichen und nichtsprachlichen Codes und Konventionen, mittels derer man die Umwelt interpretieren und mit dem anderen interagieren kann, unter den identitätsbildenden und identitätssichernden Fähigkeiten eine essentielle Rolle einnimmt . So erscheint Interaktion, aber auch die Fähigkeit zum role taking, sowie Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit, sich mit "angesonnenen Erwartungen auseinandersetzen zu können" von essentieller Bedeutung (Krappmann in Lenzen 1989)).

Problematisch erscheint im Zusammenhang mit der Bildung und Wahrung von Identität vor allem der Konflikt innerer Bedürfnisse mit von außen an die Einzelperson herangetragenen Erwartungen und zu erfüllenden Rollen, das Aufeinandertreffen des individuellen Anspruches auf ein bestimmtes Selbstkonzept mit der Tatsache, daß dieses nicht unbedingt soziale Anerkennung erfahren wird, bzw. in den Bedingungen des sozialen Umfeldes möglicherweise nicht realisiert werden kann. Bedürfnisse des Einzelnen haben sich nur allzu oft den Ansprüchen von außen unterzuordnen, umgekehrt kann die Verwirklichung innerer Bedürfnisse im Konflikt mit gesellschaftlichen Ansprüchen oder Konventionen stehen und dementsprechend stigmatisiert sein (s. Hierzu u.a. Goffman 1975).

Aufwachsend in einer Umwelt, die ständig, und dazu nur selten offen ausgesprochen und sofort durchschaubar, sondern zumeist auf sehr subtile Weise mit ihren sich oft sogar widersprechenden Anforderungen auf die einzelne Person einwirkt, indem sie die Erfüllung von Erwartungen durch diese Person belohnt und das 'aus-der-Rolle-fallen' bestraft, mag es im Einzelfall auch der erwachsenen Person schwer fallen, zwischen internalisiertem Rollenverhalten und aus dem inneren erwachsenen Bedürfnissen wirklich noch zu unterscheiden. Die 'Wahrung' der Identität, auch im Sinne eines alltagssprachlichen Begriffes wie des 'sich selbst treu bleibens' erscheint so als ständige Auseinandersetzung zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und den Anforderungen und Erwartungen der Außenwelt. Das Dilemma des Konfliktes zwischen persönlicher und sozialer Identität verschärft sich dann, wenn es nicht gelingt, den Widerspruch zwischen den beiden Polen befriedigend zu überbrücken oder auszubalancieren. Folge eines solchen Gleichgewichtsverlustes kann , im Falle des Überwiegens der Anpassung an normative Erwartung, das völlige Aufgehen in verschiedenen, entpersönlichten Rollenzusammenhängen sein. Im Falle des Beharrens auf der persönlichen Identität entsprechenden, jedoch von der Norm abweichenden Verhaltens, kann es zu Stigmatisierung kommen.

Bestimmte Komponenten von Identität, beispielsweise das Geschlecht einer Person, erscheinen gesellschaftlich festgelegter und weniger differenzierbar, als sie sind, zumal wenn wir, um beim genannten Beispiel zu bleiben, von sozialen Geschlecht einer Person, von 'gender' sprechen: beiden Geschlechtern werden noch immer bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten zugesprochen und andere aberkannt. Oft und noch immer erfüllen diese von frühester Kindheit an erlernten und internalisierten Rollen, in die wir hineinsozialisiert werden, noch ehe wir fähig sind, sie zu reflektieren, Funktionen, die für die Gesellschaft so wichtig sind, daß sie ein ausbrechen aus diesen Rollen mißtrauisch beäugt und oftmals scharf sanktioniert (man denke hier nur an Konzepte wie das der "Rabenmutter"...von Rabenvätern ist in der Öffentlichkeit doch relativ selten die Rede).

Diese Erfahrung des Verwiesenwerdens in bestimmte, durch die soziale Umwelt vorgegebene Grenzen, kann für die einzelne Person eine so massive Beschneidung des Erfüllungspotentials der eigenen Bedürfnisse bedeuten, die einer Verleugnung von Aspekten der eigenen Identität so nahekommt, daß diese Einzelperson darunter leidet. Dennoch ist es, selbst unter Leidensdruck, für den Einzelnen sehr schwer, aus einmal angenommenen Mustern sich zu befreien, um zu einer wirklich eigenen, mit den inneren Bedürfnissen vereinbaren, Identität zu gelangen, da das Abweichen von anerkannten Verhaltensschemata, und sei es nur, um sich auszuprobieren, zumeist auf Unverständnis oder gar Ablehnung in der Umwelt stoßen wird und dementsprechend mit dem Gefühl der Angst vor Stigmatisierung verbunden ist.

Hier, so scheint es, könnte im Internet ein hilfreiches Potential liegen: zum einen durch die Möglichkeit, sich selbst auch in den im RL nicht ausgelebten Aspekten der eigenen Identität auszuprobieren, ohne daß man seine direkte Umwelt schockiert, verwundert oder brüskiert, zum anderen dadurch, daß man in einer Art role taking sich in eine ganz andere, der eigenen Identität fremden Person 'verwandeln' kann und so auch andere Positionen besser wahrnehmen kann , indem man Erfahrungen macht, die außerhalb der Reichweite des eigenen RL-Selbst liegen, oder einfach nur, indem man durch das Einnehmen verschiedener Rollen für das Vorhandensein verschiedenartiger Sichtweisen auf neue, erfahrbare Weise sensibilisiert wird (Ein von mir interviewter 31jähriger männl. Nutzer meinte "Erst seit ich mal als Frau im netz unterwegs war, kann ich verstehen wie sehr es nervt, ständig so plump angemacht zu werden. Also ich könnte da nicht höflich bleiben [lacht] Da war es mir fast peinlich, auch ein Mann zu sein").

Wie bereits ausgeführt, ist prinzipiell für das Internet und die Mehrzahl ihrer User davon auszugehen, daß sie ihre 'Online-Identität' frei wählen können. Das heißt nicht, daß jeder Nutzer dies tut, für viele Nutzer scheint es vielmehr sogar etwas anrüchiges zu sein, sich für das Netz eine neue Identität zuzulegen. Dennoch gilt primär die Maxime: im Netz ist man, was man vorgibst zu sein.

Was aber bedeutet es, sich im Internet eine andere Identität zuzulegen, sich neu zu definieren in einer Repräsentation, die vorwiegend auf Worten aufgebaut ist? Was bedeutet die Möglichkeit des Identitätswechsels? Handelt es sich überhaupt um einen wirklichen Wechsel, um ein Rollenspiel - die Simulation einer Persönlichkeit gar? - oder vielmehr nur um das Ausleben eines ansonsten unterdrückten Teils der Persönlichkeit? Was bedeutet das Innehaben von mehreren Online-Identitäten für die Person, die diese Identitäten lebt? Und schließlich: wie reflektiert das Internet mit seinen neuen Möglichkeiten auf den Identitätsbegriff selbst, wie kann der neue Umgang mit der Identität, der durch das Internet gegeben ist, unser Verständnis von Identität allgemein beeinflussen? Diese und andere Fragen rund um dem Identitätsbegriff möchte ich auf den folgenden Seiten etwas näher beleuchten.

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