Eine der gravierendsten und gleichzeitig verbreitetsten Veränderungen der RL-Identität bei der Wahl der Online-Identität ist der Wechsel des Geschlechtes. Wie oben bereits erwähnt gibt es eine so große Zahl von Männern, die im Netz als Frauen unterwegs sind, daß im WWW bereits Anleitungen zur Erkennung und 'Entlarvung' dieser virtuellen Crossdresser im Netz angeboten werden.
In Habitat einer japanischen Avatarlandschaft (von Fujitsu kreierte virtuelle Stadt, in der jeder Nutzer sich durch eine selbstgewählte Cartoonfigur repräsentiert) , gibt es zum Beispiel 1,5 Millionen Nutzer. Das Verhältnis der männlichen Nutzer zu weiblichen Nutzern in RL ist dabei 4:1. Bei der Avatarbevölkerung von Habitat ist das Verhältnis jedoch 3:1. Dies bedeutet, daß in Habitat circa 150.000 Männer als Frauen unterwegs sind. Stone begründet die Tatsache, daß weniger Frauen im Netz Männer verkörpern, damit, daß Frauen im Netz mehr Aufmerksamkeit zuteil wird (die Umkehrung des Phänomens ist wohl auch allein deswegen weniger häufig, weil Frauen im Netz noch immer zahlenmaessig unterrepräsentiert sind) . Dies wird wohl für viele männliche Nutzer auch ein Grund sein, einen Charakter weiblichen Geschlechts zu verkörpern: er wird so, also als 'sie', mehr Aufmerksamkeit erfahren (Bei der "Doing Gender on the Net Conference" am MIT im April 1995 erörterte Sandy Stone auch die Möglichkeit, daß Männer, die im Netz Frauen verkörpern, darin vielleicht einen weiteren Weg gefunden haben, Dominanz über den weiblichen Körper auszuüben. Diese Frage gilt es a.a. O. ausführlicher zu unterscuhen, zumal sowohl Motive als auch Erfahrungen des gender swapping so weit zu variieren scheinen) .
In Habitat gibt es sogar eine sex change machine, einen kleinen virtuellen Automaten, der nach dem Einwerfen einiger virtueller Yens - all dies ist in Echtzeit animiert - das Geschlecht des gewählten Avatars umwandelt (Stone "What Vampires know...") . Wesentlich einfacher ist diese 'Geschlechtsumwandlung`' in MUDs oder im IRC, wo die Definition des Online-Charakters allein durch die Worte des Nutzers geschieht, und wo sogar parallel verschiedene Geschlechter verkörpert werden können.
Fragt man die, die sich virtuell als dem anderen Geschlecht zugehörig ausgeben, danach, warum sie dies tun, erhält man oft die Antwort, das spiele weiter keine Rolle, es sei eben nur ein Spiel oder ein Jux. Turkle erklärt anhand von Fallbeispielen, inwiefern jedoch durch das Spiel auch mit den Geschlechtern die Klischees und Stereotypen des eigenen und des anderen Geschlechtes, die man oft genug lediglich unbewußt auslebt und auf andere anwendet, bewußt gemacht werden.
In MUDs, aber auch im IRC, ist das Anbieten technischer Hilfe oftmals eine Möglichkeit für einen Mann, Beachtung seitens der weiblichen Mitspielerinnen zu erlangen. Männer, die im MUD in eine weibliche Rolle schlüpfen, erfahren zum ersten Mal, was es bedeutet, wenn von vornherein unterstellt wird, daß man mit einem technischen Problem selbst klar kommt, nur weil man weiblichen Geschlechtes ist. Frauen, die als Männer im MUD unterwegs sind, merken, daß ihnen die Hilfe nicht mehr sofort angeboten wird, und daß sie sie vielleicht nie wirklich gebraucht haben:
"First you ask for help because you think it will be expedient [...] then you realize that you aren't developping the skills to figure things out for you" .
Turkle interpretiert das Spiel der Geschlechter im MUD als "action-based philosophical practise" im Sinne von William James' Ansatz, die Philosophie sei die Kunst, sich Alternativen vorzustellen. Wie in Shakespeares As You Like It werden, so Turkle, durch den Rollentausch neue Aspekte von Geschlechtsidentität durch die Lebbarkeit der anderen Seite enthüllt und es besteht mehr Raum für komplexere Beziehungen. Turkle sieht hier Parallelen zum MUD: das Annehmen der Rolle des anderen Geschlechts impliziert gleichzeitig die Möglichkeit zur Dekonstruktion der Rolle des eigenen Geschlechtes .
Viele Nutzer geben als Grund für den Wechsel zum anderen Geschlecht Neugierde an, sie wollten erfahren, was es bedeutet, in der Haut des anderen zu stecken, oder sie spürten, daß es für sie selbst nicht möglich ist, bestimmte Aspekte ihres Selbst als Angehörige des eigenen Geschlechtes auszuleben .
Solche Erfahrungen können Anlaß und Stoff sein, Geschlechterrollen neu zu überdenken. Selbst wenn ein männlicher Nutzer, aufgrund eines neutralen Nicknamens für eine Frau gehalten wird, gibt ihm dies oft Anlaß, über das geschlechtlich definierte Rollenverhalten nachzudenken. Hält man den Rollenwechsel aber über längere Zeit hinweg durch, kann es zu dem kommen, was Anthropologen als dépaysement bezeichnen: die Erfahrung, daß man dadurch, daß man sich über längere Zeit in einer fremden, andersartigen Kultur bewegt hat, die eigene Kultur mit anderen Augen sieht: Dinge, die zuvor innerhalb der eigenen Kultur - in diesem Fall zum Beispiel der Rolle des Mannes und den Verhaltensweisen und Reaktionen und Erwartungen der Umwelt, die diese Rolle mit sich bringt - als selbstverständlich angesehen wurden, sind, allein durch das Erfahren einer Alternative, nicht mehr selbstverständlich. Auf diese Weise wird der Wechsel des Geschlechtes im MUD oder IRC zu einem Mittel der Selbstreflexion und der Selbst-Gestaltung.
Auch bestimmte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen, die im Laufe der Sozialisation so internalisiert worden sind, daß man sie völlig selbstverständlich anwendet, ohne sie noch zu reflektieren, werden im MUD und im IRC hinterfragt. Das Beispiel von Zoe zeigt, wie eine Frau, die im MUD einen Mann verkörpert, erlernte, 'ihren Mann zu stehen', sich besser durchzusetzen und auf ihrem Standpunkt zu beharren, ohne sich dabei schlecht zu fühlen:
"As a woman, drawing the line and standing firm has always made me feel like a bitch and, actually, I feel that people saw me as one, too. As a man, I was liberated from all that. I learned from my mistakes. I got better at being firm but not rigid. I practiced, safe from criticism." (Turkle 1995)
Allen von Turkle geschilderten Fallbeispielen ist, so unterschiedlich die Erfahrungen im einzelnen auch sein mögen, gemein, daß die Nutzer aus ihrem Wechsel in eine andere Geschlechterrolle die Fähigkeit bezogen, ein weiteres emotionales Spektrum zu leben, und in diesem Spektrum, mittels das sichere Übungsfeld MUD, soweit sicherer zu werden, daß sie daraus auch im RL profitierten.
Auch im Netz selbst gibt es immer wieder Anlaß zu spontanen Diskussionen über Geschlechterrollen. Eine Nutzerin, die unter einem geschlechtsneutralen Nicknamen im IRC mit anderen zusammen als Operator eines Channels fungiert, berichtete mir, wie oft sie für einen Mann gehalten wird, weil sie sich durchzusetzen weiß und auch vor kicks nicht zurückschreckt : Lachend erzählt sie:
"Als Op bin ich zusammen mit den anderen Ops dafür zuständig, Leute, die sich nicht an die Regeln halten, zu ermahnen und im Zweifelsfall aus dem Channel zu entfernen. Hast du jemanden gekickt, passiert es oft, daß der dich per message...daß du beleidigt und beschimpft wirst...oft ziemlich weit unter der Gürtellinie. Fast immer sind das dann Beleidigungen, die eindeutig auf das männliche Geschlecht gemünzt sind. Wenn ich dann sage: kann ja gar nicht sein daß das auf mich zutrifft, weil ich bin ja 'ne Frau.... dann sind die oft total verblüfft. [...lacht...] Es ist mir schon mehr als einmal passiert, daß sich der Kerl der mich zwei Sekunden zuvor, als ich für ihn noch ein Mann war, wüst beschimpft hat.. daß so einer sich bei mir entschuldigt hat, nach dem Motto 'wenn ich das gewußt hätte'."
Die selbe Nutzerin berichtet auch davon, wie sie aufgrund des gleichen Verhaltens, das auch die männlichen Operatoren an den Tag legen, als viel härter betrachtet wird. Oft, so berichtet sie, gibt es unter den regelmäßigen Besuchern, die wissen daß sie eine Frau ist, Witzeleien über sie als "Eiserne Lady" und ähnliches, "dabei mache ich nichts anderes als die männlichen Ops auch, und bei denen redet niemand von eisernen Jungs. Naja, vielleicht ist es ja gerade, weil ich dasselbe mache, wie die Jungs.".
Viele männliche Nutzer, die selbst schon einmal erfahren haben, was es bedeuten kann, als Frau im Netz unterwegs zu sein, kommen zu einem neuen Verständnis für das manchmal recht abweisende Verhalten von Frauen im Netz. Ein von Turkle befragter Nutzer berichtet von einem MUD, in dem er als weibliche Person mitspielte:
"Other players start showering you with money to help you get started, and I had never once gotten a handout when playing a male player. And then they feel they should be allowed to tag along forever and feel hurt when you leave them to go off and explore by yourself. Then, when you give them the knee after they grope you, they wonder what your problem is, reciting that famous saying 'What's your problem? It's only a game.'"(Turkle 1995)
Oft sind gerade durch die im MUD und IRC gegebene Anonymität die Annäherungsversuche so dreist, daß sie im Endeffekt sexueller Belästigung gleichkommen. Das Erleben von sexueller Belästigung per Message, die leider in MUDs und IRC relativ häufig vorzukommen scheinen , birgt für den männlichen Nutzer, der in diesem Moment eine Frau verkörpert, eine Qualität der Erfahrbarkeit und oft der Betroffenheit, die im Vergleich zu der bloßen Information über solche Vorkommnisse, etwa durch Zeitung oder Fernsehen, tiefer zu gehen scheint. Für viele männliche Nutzer, die solche Annäherungsversuche einmal selbst erlebt haben, oder mit anzüglichen Botschaften per Message überhäuft wurden, ist dies ein regelrechtes Aha-Erlebnis, und es bringt sie dazu, die Geschlechterrollen in neuem Licht zu sehen, oft auch ihr eigenes Verhalten Frauen gegenüber zu reflektieren und zu verändern.
Es ist klar, daß das Spiel mit den Geschlechterrollen auch zu großer Verwirrung und Enttäuschung führen kann, wenn etwa Verliebtheit mitspielt und sich dann herausstellt, daß der 'Mann meiner Träume' in RL eine Frau ist , oder wenn eine Frau sich einem Gegenüber 'unter Frauen' anvertraut, und es stellt sich hinterher heraus, daß dieses Gegenüber in Wirklichkeit ein Mann ist (aus diesem Grumd ist es wohl in vielen Channels verpönt etwas anderes darzustellen , als man RL ist). Insgesamt jedoch existiert gerade für den Bereich gender im Internet ein ungeheures Potential, das Theorien über Stereotypisierung und Rollenverhalten, die vielen oft nur vom Intellekt her bewußt sind, erfahrbar macht.
Gerade in der manchmal drastischen Erfahrbarkeit von Diskriminierung und in dem Sich-Hineinversetzten in die Position des Anderen liegt oft genug für den Einzelnen ein Anlaß, auch die eigenen Position, das eigene Verhalten neu zu überdenken, die eigenen Stereotypen zu revidieren und für sich selbst und die eigene Identität neue Wege zu erschließen. Es geht jedoch nicht allein darum, grobe und offensichtliche Diskriminierung am eigenen Leib einmal zu erfahren, sondern es geht eben auch um subtilere Erfahrungen von Stereotypisierung, darum, die eigene Anpassung an Rollenklischees bewußter zu machen. Für viele Nutzer bietet sich auf diese Weise, allein dadurch, daß sie ihr Verhalten sozusagen schwarz auf weiß vor sich haben, eine ganz neue Perspektive der Reflexion des eigenen Verhaltens.
Wie bei den in vorausgegangenen Kapiteln beschriebenen neu angenommenen Identitäten ist auch hier das Erproben und Verschieben von Grenzen, sowie das 'sich selbst ausprobieren' ein zentrales Moment insofern als die Aspekte des eigenen Selbst, die man in der Erfüllung der eigenen alltäglichen gender role unterdrückt, hier ausgelebt werden können, zum Beispiel wenn eine Frau, die im RL sehr zurückhaltend und nachgiebig ist, übt, sich durchzusetzen, oder ein Mann, der im RL sehr territorial und kompetitiv agiert, in seiner Rolle als Frau lernt, zu kooperieren und sozial zugänglicher zu sein. Zahllose Rollen können eingenommen werden, unzählige Ichs sind potentiell möglich.
Insbesondere aber ist, gerade bei den recht rigiden Geschlechtsstereotypen, das role taking relevant, insofern als die Erfahrbarkeit dessen, was es für den Anderen bedeutet, stereotypisiert zu werden, zu einem besseren Verständnis und letztlich zu einer Annäherung führen kann. Indem man sich aus der eigenen Erfahrung heraus bewußt macht, was es für den anderen bedeutet, auf Stereotypen reduziert zu werden, wird man die stereotype Strukturen im eigenen Kopf neu überdenken. Auch können vorgegebene Grenzen, die das Finden einer eigenen Identität begrenzen und erschweren, bewußter gemacht werden.
Im Idealfall können Grenzen so verschoben oder gar aufgehoben werden, indem man sich in anderen Rollen, frei von der Angst vor Mißbilligung der RL-Umgebung ausprobieren kann, und schließlich die Erfahrung des MUD - etwa, daß es, wie im Beispiel von Zoe, durchaus möglich ist, sich als Frau durchzusetzen - ins RL überträgt.
Sind Stereotypen erst einmal auf die oben beschriebenen Weisen entlarvt und bewußt gemacht, wird Raum geschaffen für mehr Individualität. In jedem Falle bietet der virtuelle Wechsel des Geschlechtes einen Einblick in die Situation der 'anderen Seite', wie er in RL nicht gegeben ist. Da im allgemeinen die Nutzer auch ihr RL-Verhalten in die virtuelle Gemeinschaft mit einbringen - etwa, wenn sie Personen mit weiblichen Nicks zuvorkommender behandeln - sind solche Einblicke auch für das RL interessant und können ein Beitrag zu einer größeren Durchschaubarkeit von sozialen Strukturen im RL leisten. Dies kann sogar dazu führen, daß die eigene RL-Position unter den neu gewonnenen Gesichtspunkten kritischer beobachtet wird.
So kann man auch bei dem Wechsel des Geschlechtes davon sprechen, daß für regelmäßige Nutzer solcher Möglichkeiten aus der virtuellen Erfahrung neue Sichten und Möglichkeiten des Verständnis des Selbst - etwa wie im obigen Beispiel 'ich kann und darf mich durchsetzen' - und des Anderen gewonnen werden können. Letztlich kann dies sogar ein Beitrag zu einem besseren Verständnis der Bedingtheiten bestimmter Verhaltensweisen und Strukturen - wie etwa die oben angeführte Erkenntnis 'dadurch daß ich mich immer darauf verlassen habe, daß mir geholfen wird, habe ich es versäumt, bestimmte Fähigkeiten zu entwickeln' - im Selbst und in der eigenen sozialen Umwelt sein.
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