Virtueller Sex


Virtueller Sex oder Cybersex, in MUDs auch als TinySex bezeichnet, besteht darin, daß zwei oder mehrere Nutzer sich in einem privaten Raum oder Channel, oder bei einem kommerziellen Onlineservice sich gegenseitig beschreiben, was sie denken, fühlen, tun und sagen. Betrachtet man die Gesamtzahl der Channels zum Beispiel in einem IRC-Netz, so wird deutlich, daß Cybersex einen großen Anteil an der Onlinekommunikation hat; unzählige Channels existieren zu den verschiedensten Vorlieben, von #gay_sm bis #cuddlesex.

Da, wie bereits oben beschrieben, die Online-Identität frei wählbar ist, existieren zahllose Varianten zum Thema: man behält das RL-Geschlecht bei seinem Online-Charakter bei, Männer haben als weibliche Charaktere Sex mit Männern, oder mit lesbischen Frauen, man schlüpft in die Rolle eines Hasen oder ähnliches, und so weiter - jede Variante ist denkbar, wenn auch, und darin scheinen sich sämtliche Autoren einig, der Wechsel vom Mann zur Frau wesentlich häufiger ist. Wie bereits oben erwähnt sind auch die Vorlieben, die so ausgelebt werden, sehr weit gefächert. Dabei nutzen die einen die virtuelle Welt als Ergänzung, die anderen als Ersatz oder zum Experimentieren mit Situationen, die sie im RL noch nicht erprobt haben. Die Anonymität im Netz schafft dabei eine gewisse Distanz, die Hemmungen überwinden hilft, wie Stephan, 23, der täglich im IRC ist, ausführt :

"Ja, die Distanz läßt viel mehr Spielraum für die Phantasie... deswegen so viele 'perverse' Spielarten im Netz..."

Der regelmäßige IRC-Nutzer David, 32, meint hierzu :

"Vor allem vermindert das Internet über die Art der Kommunikation, das anonyme Tippen, die Hemmschwelle."

Viele der Befragten betonten, daß gerade die Unverbindlichkeit in Kombination mit der Anonymität es für sie auch erleichtert, Wünsche zu äußern, Phantasien mitzuteilen und in virtuellen Raum auch auszuleben. Allerdings monierten auch viele, daß sie die Körperlichkeit beim Netsex vermissen. Die Reduktion auf Sprache ist dabei Vorteil und Nachteil zugleich: zum einen zwingt sie, sich Wünsche und Bedürfnisse bewußt zu machen und sie zu formulieren, was durchaus auch eine Übung für das RL sein kann, zum anderen jedoch ist die Situation in gewissem Sinne paradox, da Intimität und Distanz in der Cybersexsituation hart aufeinander prallen.

Dennoch kann im virtuellen Raum eine Intimität entstehen und gelebt werden, und so manches Beispiel zeigt, daß aus Cybersex Cyberliebe werden kann - aus einem einzigen IRCnet-Channel zum Beispiel sind innerhalb zweier Jahre 3 Eheschließungen hervorgegangen und bei allen drei Paaren stand vor dem eigentlichen Kennenlernen der RL-Personen Cybersex. Allerdings existieren auch genügend Beispiele, die zeigen, daß diese Cyberliebe oft allein auf Projektionen in das Gegenüber basiert, und dementsprechend werden auch oft genug Menschen verletzt und enttäuscht. Die Anonymität des Netzes bietet zwar - teilweise - Schutz vor Enttarnung, sie ist jedoch keine Garantie für Unverletzbarkeit, und so mancher Nutzer hat dies schon schmerzhaft spüren müssen, wenn er sich in sein Online-Gegenüber verliebte, und sich später herausstellte, daß er sich in ein Idealbild, das diese Person nirgends als in seinem eigenen Kopf existierte, verliebt hatte. Hier zeigt sich, daß die Autorschaft des Nutzers, das Konstruieren von Bedeutung im Netz durchaus auch nachteilige Seiten haben kann.

Viele Nutzer leben im Internet auch Neigungen aus, zu denen zu stehen sie im RL den Mut noch nicht gefunden haben. Auf die Frage, was Cybersex für ihn bedeutet, antwortet der von mir befragte David, 32:

"Ich stellte fest, daß ich nicht alleine mit meinen Phantasien, Neigungen, Wünschen bin. Und ich traf einige Menschen, die ähnliche Phantasien hatten und haben, die mir zeigten, daß ich gar nicht krank bin, nicht unnormal... das war ziemlich wichtig für mich. erst so konnte ich mich auch im RL dazu bekennen. [...] man kann wesentlich leichter über sehr intime Dinge reden. Mit keinem Menschen würde ich beim Kaffee einfach im dritten Satz anfangen, über SM-Phantasien zu reden. Im Internet kann so etwas schon mal vorkommen. Es geht nicht ums Outing, wobei es auch dabei half, es geht auch um mein Selbstbewußtsein und mein Selbstverständnis."

So kann, wie oben bereits erwähnt, das Netz eine Hilfe sein, mit den eigenen Neigungen besser zurechtzukommen und zu einem besseren Verständnis seiner selbst zu gelangen. Ein solches Verständnis, gepaart mit einem Zugewinn an Sicherheit, muß nicht immer über den intellektuellen Weg, etwa durch Outing-Support-Gruppen oder Diskussionsgruppen geschehen, sondern kann sich auch, wie mir von einigen Gesprächspartnern berichtet wurde, spielerisch, über Cybersex ergeben, oder aus einer Mischung von beidem heraus.

Man kann davon ausgehen, daß Cybersex für die meisten Nutzer ein Mittel zum Zweck ist, das Spaß macht und das sie nutzen, ohne sich mit den im RL möglichen Konsequenzen, wie Schwangerschaft, eine mögliche Ansteckung mit sexuell übertragbaren Krankheiten oder großen emotionalen Komplikationen auseinanderzusetzen. Dennoch gibt es selbst hier, zumindest für einen Teil der Nutzer, eine Komponente der Selbstfindung, des 'zu-sich-selbst-stehen-lernens' die nicht zu unterschätzen ist.

Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle jedoch eine Problematik, die im Internet brisant ist: Kinder und Netsex (Turkle geht davon aus, daß vor allem Kinder ab 10 Jahre im Netz allein unterwegs sind). Dabei geht es um zwei Hauptaspekte: zum einen um die Sorge, Kinder könnten von Erwachsenen online sexuell belästigt oder gar mißbraucht werden. Dieser Aspekt wird in den Medien so breitgetreten, daß man denken könnte, das Netz bestünden nur aus Pädophilen. Selbstverständlich existiert das Problem, und man sollte es keinesfalls verharmlosen. Wie im RL gilt es, solange es keine Möglichkeit gibt, Kinder vor solchen Übergriffen zu schützen sie zu wappnen, sie aufzuklären über ihr Recht, nein zu sagen, und ihnen klar zu machen, daß sie jederzeit mit ihren Eltern darüber reden können:

"The children who do best after a bad experience on the Internet (who are harrassed, perhaps even propositioned) are those who can talk to their parents, just as children who best handle bad experiences in real life are those who can talk to a trusted elder without shame or fear of blame". (Turkle 1995)

Eltern sollten sich, wenn ihre Kinder das Netz nutzen, mit dem Internet befassen, um zu einem realistischen Bild der Gefahren und der Möglichkeiten zu kommen. Das bedeutet nicht, daß man die Kinder ständig überwachen muß, denn dann würden die Kinder sicher bald den Spaß an der Sache verlieren. Vielmehr geht es darum, die Gefahren richtig einschätzen zu können, und auch darum, dem Kind das Interesse, das offene Ohr auch für die Probleme in der virtuellen Welt zu signalisieren.

Ein zweiter Aspekt der Thematik 'Kinder und Netsex' ist der, daß manche Kinder und Jugendliche die Wahl treffen, die Erfahrungen der eigenen Sexualität teilweise in den virtuellen Raum zu verlegen. Turkle hat hierzu Untersuchungen angestellt, und konstatiert, daß es in den Kreisen, in denen der Zugang zum Netz vorhanden ist, nicht unüblich ist, daß Kinder und Jugendliche erste Flirts und sexuelle Erfahrungen online machen. Bei Turkles Beispielen zeigt sich, daß die Jugendlichen dabei vor allem das Gefühl der relativen Sicherheit schätzen. Schüchternheit ist leichter zu überwinden, peinliche Situationen entstehen nicht so leicht.

Eine von Turkle interviewte Dreizehnjährige betont, daß ihr Gegenüber im Netz - im Gegensatz zu RL - mehr reden müsse. Auch Rob, 14, findet, daß man online mehr Information über sein Gegenüber erhält . Er betont auch, daß es ihm leichter fällt, sich online mit einem Mädchen zu unterhalten, als zum Beispiel auf einer Party. Eine andere Dreizehnjährige berichtet, daß sie gerne online Beziehungen knüpft, die sie dann in RL weiterführt. Mit ihrem Freund pflegt sie auch online Kontakt und sie findet daß sie beide durch die zusätzlichen elektronische Kommunikation "closer" sind. Insgesamt läßt sich aus Turkles Material schließen, daß der Grund, aus dem Kinder und Jugendliche online Erfahrungen im sexuellen Bereich machen wollen und machen, der ist, daß sie dort weniger Druck empfinden - weniger Versagensängste, weniger Angst vor Abweisung, weniger Angst vor peinlichen Situationen. Auch hier gibt es jedoch die andere Seite. Eine Zwölfjährige berichtet von beiden Aspekten:

"Usually the boys are gross. Because you can't see them, they think they can say whatever they want. But other times, we just talk, or it's just [virtual] kissing and asking if they can touch your breast or put their tongue in your mouth." (Turkle 1995)

Auf die Frage hin, ob sie denke, daß ihre sexuellen Aktivitäten online für sie etwas verändert haben, antwortet sie, daß sie mehr von 'older kids' gelernt habe, die sich im RL nicht mit ihr abgeben würden. Die Frage, ob sie denkt, daß sich ihr jemals jemand online genähert habe, den sie für erwachsen hielt, antwortet sie mit nein, ergänzt aber, daß sie sich hin und wieder angebe, sie sei bereits 18, und wenn sie das öfter täte, würde das wohl passieren;

" I ask her if she is concerned about this. She makes it very clear that she feels safe because she can always just disconnect."

Zusammenfassend kann man sagen, daß auch im virtuellen Sex, so unvorstellbar und seltsam dies für manchen klingen mag, ein Potential zur Selbstentdeckung und zu einem anderen Selbstverständnis liegen kann. Dabei liegen die Schwerpunkte für den Einzelnen sehr unterschiedlich, und, wie oben erwähnt, ist Cybersex für so manchen - vielleicht die meisten - sicher einfach nur eine weitere Spielart die sie nicht weiter ernst nehmen, aber genießen, und solange dies im Einverständnis mit dem Gegenüber geschieht, ist dagegen wohl nichts einzuwenden. Im Gegenteil - man könnte sogar argumentieren, daß diese Art des sexuellen Vergnügens besonders safe ist, insofern als weder ungewollte Schwangerschaften, noch sexuell übertragbare Krankheiten drohen.

Interessant ist jedoch vor allem der Aspekt der sexuellen Identität, der insbesondere dann zum Tragen kommt, wenn der Betroffene im Alltag wegen bestimmter Neigungen, die vielleicht gesellschaftlich nicht vollständig akzeptiert sind, Unsicherheit empfindet. Hier bietet das Internet eine Hilfestellung, indem es ermöglicht, seine Phantasien in einer Art Rollenspiel auszuleben, Gleichgesinnte zu finden und so vielleicht zu einem entspannteren Verhältnis zur eigenen, zuvor als 'unnormal' empfundenen Sexualität zu gelangen. Ebenso ist das Einüben von sozialen Verhaltensweisen im Netz eine Möglichkeit, andere Unsicherheiten zu überwinden, Bestätigung zu finden.

Zur Thematik Kinder und Netsex ist zu sagen, daß die von Turkle befragten älteren Kinder und Jugendlichen das Ausprobieren ihrer Sexualität im Netz als positiv - da 'sicherer' - empfinden. Vielen waren die Erfahrungen, die sie im Netz mit der eigenen Sexualität gemacht haben, Anlaß zur Selbstreflexion und zum Nachdenken darüber, was sie sich unter Sexualität vorstellen, was sie sich wünschen. Vor allem im Vergleich mit den ersten RL-Erfahrungen finden sie, daß zum Beispiel reden sehr wichtig ist. So lange Jugendliche sich in diesem Rahmen und aus freiem Willen erproben, kann dies sinnvoll sein und Unsicherheiten überwinden helfen.

Vor sexuellen Übergriffen - durch Gleichaltrige oder Erwachsene - sind Kinder und Jugendliche wie in RL nicht geschützt, vielleicht sogar noch weniger, da zum Beispiel ein Erwachsener sich im Netz ohne Probleme als Gleichaltriger ausgeben könnte. Hier können präventiv nur Aufklärung - denn was spricht dagegen, Kindern und Jugendlichen zu erklären, was geschehen kann, und daß sie sich, sobald sie ein ungutes Gefühl haben, wehren bzw. ausloggen können - und das aktiv signalisierte Interesse und Verständnis der Eltern und Lehrer für den Fall eines Übergriffes mit auf den Weg gegeben werden, so daß Kinder und Jugendliche das sichere Gefühl haben können, daß sie von ihren Eltern mit ihren Erfahrungen - selbst wenn den Eltern der Reiz der virtuellen Welt verschlossen bleiben sollte - ernstgenommen werden.

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