Ja, Goethe Jahr. Die Uni Koeln hat einen Wettbewerb gestartet, bei dem ein jeder etwas zum Thema die Leiden des jungen Werther von sich geben konnte.

Ich habe natürlich auch mitgemacht und wurde gütigerweise mit einem Preis bedacht. Hier also die Geschichte, die der Jury einen Sonderpreis wert war (die anderen Preisträgergeschichten waren eh alle Scheiße):

Sehr verehrte  Frau Charlotte.

Schweren Herzens habe ich mich durchgerungen Kontakt zu ihnen herzustellen, teils um meine Seele von einigen Druckstellen zu befreien, die das Wissen eines besten Freundes so mit sich bringt; teils um ihnen diese unvorstellbare Tat unseres guten Werther verständlicher zu machen. Denn obwohl wir alle um seine Meinung wußten, was den Tod durch eigene Hand anging, hatten doch die wenigsten dieses Ende vorhersehen können.
Er hatte mir wiederholt seine Gedanken, Gefühle und sein tiefstes Verlangen zu Ihnen in seinen Briefen beschrieben. Und Sie können sich meine Bestürzung schwerlich vorstellen, wie ich mitanzusehen gezwungen war,  meinen besten Freund einer derart hoffnungslosen Sache, der Liebe einer bereits einem anderen versprochenen Frau, auf solch sture und starrköpfige Art immer weiter nachlaufen zu sehen. Manch einer, der es nicht besser wüßte,  könnte behaupten, Sie hätten ihn in seinen Handlungen bekräftigt, sie wären nicht konsequent genug darin gewesen ihn zurückzuweisen, wohl weil ein derart hoffnungslos verliebter Verehrer  dem Herzen einer Frau zu schmeicheln scheint. Tatsächlich erhielt ich vor zwei Wochen einen Brief eines Fräulein von B., die, schrecklich entrückt und aufgelöst über das Geschehene, behauptete, Sie, Albert, wir alle hätten den guten Werther in den Tod getrieben.
Doch beginne ich  allmählich die Art Verbundenheit zu verstehen, die zwischen Ihnen und Werther geherrscht haben muß, welche es Ihnen unmöglich machte einen Schlußstrich zu ziehen, der weniger, verzeihen sie meine Ausdrucksweise, blutig, ablief. Sie konnten ihn nicht gehen lassen, empfanden sie doch mehr als bloße Freundschaft, wenn auch scheinbar nicht genug, daß sie ihre Verlobung mit Albert ins Unglück zu stürzen bereit gewesen wären. Und Werther sah in Ihnen das einzige, reine, das höchste Ziel weiblicher Erfüllung auf Erden. Es scheint als hätte er schon früh den Entschluß gefaßt, entweder mit Ihnen zu leben, oder aber gänzlich auf das Leben zu verzichten.
Nun, da ich alle Briefe mehrfach gelesen habe, glaube ich langsam meinen verblichenen Freund zu verstehen. Wenn man seinen Ausführungen über Sie glauben darf, und der Gute neigte nicht zu übermäßigen Übertreibungen, müssen Sie in der Tat eine der außergewöhnlichsten Frauen sein, die kennenzulernen man jemals das Glück haben könnte. Ich für meinen Teil weiß jedenfalls nicht, ob nicht auch ich Ihrem Charme, Ihrer Gutmütigkeit und Wärme, erlegen wäre, wie es Werther erging. Tatsächlich spüre ich eine seelische Verwandtschaft zu Ihnen, die möglicherweise aus der Tatsache erwächst, daß wir beide so eng mit demselben Menschen verbunden waren. Halten Sie das für möglich? Nach den Beschreibungen seiner Briefe drängt es mich danach Sie besser kennenzulernen, wohlweislich, mich in dieselbe Gefahr zu begeben wie mein Freund.

Entschuldigen Sie, aber es liegen ein paar Tage zwischen den Zeilen dieses Briefes, die ich benötigte, Nachlassfragen zu regeln. Diese Pflicht ist mir als seinem besten Freund auferlegt worden. Ebenso wie die Bürde, alle übrigen, die ihn kannten, von seinem Ableben in Kenntnis zu setzen. In diesen Tagen hat es  mich wieder und wieder zu den alten Briefen hingezogen, die noch bei mir liegen, zu den Stellen, die von Ihnen handeln, Sie beschreiben und die Gefühle meines Freundes, welche ich gut zu verstehen glaube. Ich wünschte, wir könnten uns treffen und kennenlernen, so würden wir uns sogleich verstehen. Doch Ach, dabei vergesse ich sowohl Albert, als auch meine Familie, die dem Ganzen wohl mehr als skeptisch gegenüberstehen würden.

Wieder sind zwei Wochen vergangen und ich bin ebenso verstört über die Entwicklung, in welcher ich mich gerade befinde, wie Sie, werte Charlotte, die Sie diese Zeilen lesen. Doch ist es mir so, als verstünde ich Werther nicht nur, sondern als begönne ich damit seine Gefühle zu teilen, die ich mir immer wieder in seinen Briefen verinnerlichte. Eine unbeschreibliche Sehnsucht,  Sie kennenzulernen, ebnet sich unaufhörlich ihren Weg in mein Herz, zusammen mit einer tiefen Verzweiflung, die die Unmöglichkeit dieser Situation erkennt.

Ich habe mich gestern mit dem Fräulein von B. unterhalten. Was für ein reizendes Geschöpf, sagte Werther nicht sie währe Ihnen ähnlich, wie man sich nur ähnlich sein kann? Und doch muß dort  etwas in Ihrem Wesen liegen, liebe Lotte, das mich dazu drängt, Sie und nicht jenes hübsche Fräulein zu treffen, selbst wenn dies auf Unverständnis allderer stößt, welche mich zu kennen glauben.

Heute stieß ich auf ein paar  Briefe, die ich bisher nicht bemerkte, waren sie doch auf den Boden gefallen und versehentlich unter die Dielen gerutscht. Mein Herz! Noch nie wurden Gefühle so klar und rein beschrieben wie hier. Ich sehe meine Gedanken zu Papier gebracht und ach, mein Herz scheint zu zerbrechen, bei der Einsicht, daß ich Unmögliches erwarte. Ich habe mein Haus verlassen, da ich mich  in Gesellschaft von anderen Menschen nicht länger wohl fühle. Ich brauche ein paar Tage, um mich zu sammeln, mit meinen Gefühlen eins zu werden und eine Entscheidung zu treffen.

Liebstes Lottchen, es kann nicht so weitergehen. Ich vergehe bei dem Gedanken, Sie niemals zu treffen, nie zu berühren. Nun beneide ich sogar Werther, der das Glück hatte soviel Zeit mit Ihnen zu verbringen, Sie sogar küssen zu können. Bevor diese unglückliche Sache uns alle noch tiefer ins Unglück stürzt und ich die Gesellschaft erzürne, indem ich versuche mich in eine glückliche Ehe zu stehlen, sehe ich mich genötigt den letzten Schritt zu tun, um Schlimmeres zu vermeiden. Ich weiß, das ich niemals den Mut aufbrächte mich einer Pistole zu bedienen, wie Werther einst, und alles Blutige widerstrebt mir zutiefst. So werde ich eine andere Lösung finden müssen, Gift vielleicht, um diese eine unglückliche Person hier,  genauso wie Werther, von ihrem Elend zu erlösen. Ich hoffe, Sie werden mir vergeben, geliebte Charlotte. Ich weiß ein Leben zu beenden ist eine schwere Sünde, die ich einst aufs Äußerste verurteilt hätte. Doch der Freitod meines Freundes half mir auch darüber klar zu werden, daß manche Dinge keine andere Lösung zulassen. So habe ich nun meine Entscheidung gefällt und bleibe dabei, noch heute werde ich es tun und wenn Sie meinen Brief erhalten wird es bereits zu spät sein, um noch etwas daran zu ändern.

PS:  Ich verspreche ihnen, daß Albert nicht lange leiden wird.

In Liebe, ihr Wilhelm.
 
 
 
 

Zons, den 18. 8.99                                                                                            von Martin Klein