Grüne Sorgen, schwarze Visionen
Ökologie in der angstfreien Gesellschaft.
Von Richard David Precht (FAZ vom 20. 03.1999)
 

Die angstfreie Gesellschaft lebt mit dem täglichen ökologischen Sündenfall wie die Christen mit der Erbsünde. Sie weiß, daß alles verderbt ist, und macht seelenruhig weiter wie bisher. Das Eingeständnis der großen Schuld liefert stillschweigend die Absolution. Wenn alles Wirtschaften in der Industriegesellschaft ökologisch sündig ist, fällt die tägliche Sünde kaum noch ins Gewicht.
Im Jahr sieben nach der Umweltkonferenz von Rio ist der Zustand des Planeten verheerender als je zuvor. Die geforderten politischen Kooperationen erwiesen sich als Rhetorikübungen. Von den sechshundert Milliarden Dollar, die insgesamt für den globalen Umweltschutz veranschlagt wurden, floß nicht mal eine. Und auf die vereinbarte 125-Milliarden-Spende der Industrienationen warten die Entwicklungsländer bis heute.

Es steht schlecht um einen fundamentalen ökologischen Wandel der Weltwirtschaft. Zu Ende des Jahrtausends, so scheint es, ist uns die Natur auf fahrlässige Weise abhanden gekommen. Wer hat heute noch Angst vor der globalen Erwärmung, dem Ozonloch, so groß wie Eurasien, und den ewig schmelzenden Polkappen? Je sicherer die Klimakatastrophe kommt, umso geringer werden die Bedenken. Mit der Furcht vor den Folgen chemischer oder atomarer Waffen ist nach dem Ende des Kalten Krieges nichts mehr zu gewinnen. Die Menschen des Westens kennen kaum noch eine Angst, die sie zu Massen auf die Straße treibt. Selbst die stets genannte Angst vor der Arbeitslosigkeit geht nicht so weit, zur echten Kollektivangst zu werden. Arbeitslosigkeit ist nicht wirklich solidarisierungsfähig. Ihr fehlt das Ethos des selbstlosen Engagements aller anderen Angstbündnisse. Und als Gruppengefühl hat sie ein zu schlechtes Image. Wer sich vor ÖkoCrash und Nuklearkrieg ängstigte, demonstrierte Sensibilität und Voraussicht; wer um den Verlust seines Arbeitsplatzes fürchtet, demonstriert Nachbarn, Freunden und Bekannten einen augenscheinlichen Mangel an Tüchtigkeit.
Entsprechend ratlos sitzen sie heute da, die verunsicherten grünen Zeitgenossen in Erfurt und anderswo. Hatten sie nicht einst in Kalkar und Bonn ,,We shall overcome" gesungen, im Einklang mit allen Gutwilligen? Hatten sie nicht dort ihr großes ewiges Bündnis verabredet, gezeugt in der Marschen von Brockdorf und Gorleben, gehärtet unter Polizeiknüppeln und Wasserwerfern? Und jetzt diese Orientierungslosigkeit, diese Leere. Wer auch immer den Debatten in Erfurt gelauscht und die Beschönigungslyrik der Vorderen beobachtet hat, weiß: die Grünen haben ihr Thema verloren. Die Umweltpolitik klassischer Fundierung ist out.

Die ökologische Sprachlosigkeit der ehemaligen Herren über Grenzwerte, Wasser-, Wind- und Solarenergie, Treibgas-Verbote, Tempolimit und autofreie Innenstädte ist eine Folge des Angstverlusts. Orientierungslos schlingern die Entrüstungspessimisten von einst durch die Fahrwasser der Wirtschafts- und Energie-politik. Das angeschlagene Schiff läßt sich nicht mehr kampagnefähig machen. Hatte nach Tschernobyl noch jeder zweite Bundesbürger den erneuten russischen GAU, diesmal bei ständigem Ostwind, kommen sehen und leidenschaftlich für das Ende der Atomenergie plädiert, so fehlt für einen baldigen Ausstieg heute fast jeglicher Rückhalt in der Bevölkerung. Jürgen Trittins Versuch, den Ausstieg aus der Kernenergie energisch zu forcieren,  belehrt  unmißverständlich darüber. Wer fundamental-ökologische Handlungsnähe demonstriert, erscheint realitätsfern.

Ein demographischerWinter droht
Das Kapital der Grünen war die Angst, ihr Fundament die in ungezählten Demonstrationen der späten siebziger und frühen achtziger Jahre gehärtete Opposition zur Gesellschaft, Doch gerade die Annahme, daß die Gesellschaft selbst die Ursache dessen sei, wogegen man protestiert, führt heute unweigerlich in die Krise. Sie läßt Handeln in der Gesellschaft nicht ohne Selbstwiderspruch zu. Als etabliertes Teilsystem, gar als Regierungspartner, fehlt den Grünen ihr weltanschauliches Rückgrat. Die Differenz zur etablierten Gesellschaft ist heute allenfalls Rhetorik, symbolisiert in der nostalgischen Trennung vom Amt und Mandat.
Wer sein hohes Moralgebäude auf einem so schmalen Fundament an Realitätssinn baut, muß sich über Enttäuschung nicht wundern. Es dürfte das große Dilemma der Grünen sein, in der Phase ihres allmählichen Niedergangs an die Macht gekommen zu sein. Der Identitätsverfall ist älter als die Regierungsmacht, auch wenn er erst jetzt offen zutage tritt. Programm, Profil und Perspektive der Grünen sind dahin. Mit schlecht gespieltem Stolz verweisen die Nachlaßverwalter einer großen gesellschaftlichen Bewegung heute auf ihre vermeintlichen Erfolge wie die sogenannte Öko-Steuer, die mit dem geforderten Totalumbau der Industriegesellschaft gerade so viel zu tun hat wie Heraldik mit Zoologie. Die Natur ist kein Wähler, und ihre politischen Treuhänder, so hat sich gezeigt, sind entsprechend unsichere Kantonisten. Auf dem Weg zur Allroundpartei kommt heute jedes Thema recht, Hauptsache, es verspricht ein neues Image. Ob mit Hilfe von Bildung, Arbeit, Finanzen oder, der Jung-Grüne Matthias Berninger hat es vorgeschlagen, als ,,Familienpartei.

Von der Selbstüberforderung zum Selbstbetrug ist es nur ein kleiner Schritt. Die große Sorge um die Umwelt war das Motiv, an die Macht zu wollen. Heute ist die Macht das Motiv, die große Sorge um die Umwelt einzustellen. Was heute an Umweltpolitik konsensfähig ist, erübrigt fast die Umsetzung. Längst haben deshalb auch die anderen Parteien die Themen aus dem angeglichen Parteiprogramm aufgegriffen, durch häufigen Gebrauch abgewetzt bis zur Unkenntlichkeit, banalisiert und entschärft durch Sonntagsreden und Bekenntnisse. Die Konsumansprüche in einer zum Wachstum verdammten Gesellschaft der Natur zuliebe sozialverträglich zu senken scheint heute unrealistischer als je zuvor. Doch wer kann die Lücke, die die Grünen hinterlassen, füllen? In solcher Lage läßt aufhorchen, daß seit einiger Zeit neue Kritik am ökologischen Preis von Marktwirtschaft und Kapitalismus zu vernehmen ist. Eine Kritik freilich nicht gegen, sondern in bewußt gesuchter Nähe zu Wirtschaft und Technik. Wenn harte Worte gegen das Prinzip des Fortwurstelns fallen, so kommen sie von denen, die schon immer der Ansicht waren, mehr von der Umwelt zu verstehen als deren grüne Anwälte. Unüberhörbar im Konzert der Zukunfts-Ökologen ist heute vor allem die Stimme politisch konservativer Naturwissenschaftler. Für Hubert Markl, Biologe und Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, ist die ökologische Herausforderung die ,,gewaltigste Menschheitsaufgabe der Zukunft'  (,,Wissenschaft gegen Zukunftsangst", Hanser 1998). Der entsprechende Katalog an Forderungen liest sich, oberflächlich betrachtet, wie ein grünes Grundsatzprogramm. Die Menschheit, so Markl, müsse in kurzer Zeit ihre Lebensgewohnheiten und ihre Konsumansprüche grundlegend ändern. Produktionsverfahren und Verfahren zur Rohstoffgewinnung müßten umgestaltet werden. Die Biopotentiale  also die genetischen Ressourcen von Mikroben, Pflanzen und Tieren, die uns mit allen benötigten bio-organischen Rohstoffen versorgen und ihren Anteil an der Entsorgung unserer Abfallprodukte aller Art leisten - gehörten besser ausgenutzt. Denn nur so sei der ,,bis heute anhaltenden, schädliche Nah- und Fernfolgen akkumulierenden expansiven Wirtschafts- und Lebensweise der Menschheitsvergangenheit eine intensive und auf Dauer erhaltungsfähige Bewirtschaftungsweise der Biosphäre" entgegenzusetzen.
Die Sorge des weitsichtigen Biologen kommt nicht von ungefähr. Sollte die Weltwirtschaft den Sprung in diese nachhaltigen und ökologisch verträglicheren Nutzungsverfahren nicht schaffen, so erblickt auch Markl in der Zukunft einen Abgrund. Gewiß, der Gerichtsvollzieher der Natur, den der Club of Rome in den siebziger Jahren schon für Ende der achtziger Jahre angekündigt hatte, läßt bis heute auf sich warten. Doch die Frage lautet weiterhin: Wie lange noch? Die Medien mögen sich des Themas zur Zeit wenig annehmen. Auch daß Altpapiersammlungen und gelbe Säcke vor deutschen Haustüren, Katalysatoren in deutschen Autos und Filtersysteme in deutschen Kraftwerken allein die Welt nicht vor dem Öko-Kollaps bewahren, dürfte auch denen klar sein, die es nicht hören wollen. Nach wie vor steht die Erde vor dem Beginn einer Eiszeit. Aber nicht Schneemassen, Gletscher und arktische Temperaturen bedrohen die Schöpfung, sondern ein ,,demographischer Winter". Bei einer gegenwärtigen Verdopplungsrate der Weltbevölkerung von dreißig Jahren wird unser Planet in der Mitte des kommenden Jahrhunderts die Last von acht bis zwölf Milliarden Menschen zu tragen haben. Obwohl die globale Wachstumsrate bereits in den sechziger Jahren einen Höhepunkt erreicht hat und seither kontinuierlich gefallen ist, steigt die Zahl der Menschen auf unserem Planeten in beängstigendem Maße.

Eine neue Moral aus der Biologie?
Wem diese Logik noch fremd ist, dem erzählt der Harvard-Biologe Edward 0. Wilson gerne das Beispiel des Seerosen-blattes. Man setze ein Seerosenblatt in einen Teich. An jedem folgenden Tag verdoppelt sich dieses Blatt und jeder seiner Nachkommen. Am dreißigsten Tag ist der Teich vollständig von Seerosenblättern bedeckt, die sich nun nicht weiter vermehren können. An welchem Tag war der Teich halb voll und halb leer? Am neunundzwanzigsten!

Der Tribut der Überbevölkerung geht einher mit den Folgen des extravaganten Lebensstils, den die Mittelschichten in Nordamerika, Westeuropa und Japan heutzutage genießen. Gemeinsam verbrauchen diese Regionen mehr als siebzig Prozent aller Rohstoffe und Energie. Um die ganze Welt mit heutiger Technologie auf den Lebensstandard der Bundesrepublik zu heben, bedürfte es der Ressourcen zweier weiterer Planeten Erde. Die Entwicklung des Klimas und die zu erwartenden geophysikalischen Katastrophen zeichnen das Bild einer langfristig nicht überlebensfähigen Menschheit
So gewiß diese Bedrohung auch scheint, so ungewiß sind nach wie vor die Lösungswege. Wo noch zu Beginn der neunziger Jahre Öko-Fundamentalisten wie der englische Philosoph James Lovelock die Industrieländer des Westens allen Ernstes ermunterten, dreißig Prozent ihres Landes als Wald, Wiese, Moor und Heide zu ,,rekultivieren' und die Hälfte davon den wildlebenden Tieren und Pflanzen als ,,Privateigentum" zu überlassen, arbeiten heute kühle Naturwissenschaftler an umfassenden Risikoabschätzungen. Die Geburtenrate in den Ländern der Dritten Welt zu senken, die Methoden der Nahrungsproduktion zu verbessern oder die Energienutzung zu optimieren nichts geht ohne das Know-how der Biologen, Chemiker und Physiker.
Doch Experten lassen sich, einmal gefragt, nicht gerne bremsen. Das Risiko der ökologischen Bedrohung nämlich fordert nach Ansicht vieler konservativer Naturwissenschaftler zugleich, liebgewonnene Rücksichten beiseite zu legen und neue Risiken einzugehen. Kaum ein Zukunfts-Ökologe aus den Reihen der Techniker, der bis zur Serienreife von Solar- oder Windenergie nicht für den Erhalt von Atomkraftwerken eintritt. Sensibilitäten wie die verschärfte Kontrolle von Tierversuchen schaden dem Fortschritt von Biotechnologie  und  Ernährungsforschung. Und selbst wenig ökologisch anmutende Forschungsgebiete wie die Reproduktionsmedizin und die Gentherapie rücken en passant in den Blickwinkel der Zukunfts-Ingenieure. Für Wilson beispielsweise liefert die Gentechnik unverzichtbare Hilfe, den Fortbestand einer gesunden Menschheit unter erschwerten Umweltbedingungen zu sichern. Was der Wettbewerb auf dem internationalen Markt nicht hergibt, liefert nun die Ökologie: ein moralisches Argument für die umstrittene Risikotechnologie.
Die Suche nach einer neuen Moral ist das gemeinsame Kennzeichen aller weltanschaulich konservativen Ökologen. Ein moralischer Fortschritt der Menschheit müsse her, ein Fortschritt freilich, der sich von der Selbstgewißheit der linken Angst-ökologie eindeutig unterscheide. Während sich die Linke traditionell immer schon im Besitz der Moral wähnte, müssen Konservative ihre Moral erst suchen.

Wer seine Weltanschauung auf Widerstand gegen die etablierte Gesellschaft mit ihrem Wirtschaftssystem gründet, hat es moralisch einfacher. Weil das Wirtschaftsprinzip unverantwortliche Folgen zeitigt und sich somit diskreditiert, ist die Moral schlicht das Gegenteil des Status quo. Doch welche Chance zur Moral hat die systemkonforme technikfreundliche Ökologie?
Geht es nach den Vorstellungen Edward Wilsons, so begründet sich die Moral der Zukunftsgesellschaft aus der Biologie. Voraussetzung einer zukunftsfähigen Gesellschaft sei dabei freilich zugleich die Vernetzung allen sinnvollen Wissens. Consilience (,,Die Einheit des Wissens", Sied1er 1998) ist Wilsons Zauberwort. Wo in den achtziger Jahren New-Age-Autoren und einige esoterische Physiker vom großen Ganzen als dem einzig Wahren träumten, erwachsen heute Biologen-Träume. Angesichts der Biologie als Jahrhundert-wissenschaft erscheinen vor allem die Geisteswissenschaften klein und bedeutungslos. Anstatt weiterhin an philosophischen Kartenhäusern weiter zu bauen, während die Erde Risse bekommt, müsse endlich ein sicherer Turm errichtet werden. Die Bauanleitung ist einfach und übersichtlich: von den Genen und Neuronen über die ,,epigenetischen" Regeln der Sinnproduktion im Gehirn bis zur Kultur und zur Politik. Auch der Sprung vom biologisch-kulturellen Wissen zur Moral sollte dann kein Problem mehr sein. Auf diese Weise nämlich, so hofft Wilson, werden wir neue Antworten auf die wichtigen moralischen Fragen der Menschheit finden und ,,auf freiheitliche Weise" neue verbindliche Normen definieren.

Fortschritt und Humanität
Das Selbstmißverständnis könnte größer kaum sein. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Neurobiologie manches über die Kontrollzentren der Moral im Gehirn zu erzählen vermag. Regeln und Normen zu begründen ist freilich eine ganz andere Sache. Von den Funktionsweisen im Gehirn auf eine verbindliche Moral zu schließen heißt den Lichtschalter mit dem Licht zu verwechseln. Haß oder Liebe, Vertrauen oder Mißtrauen, Hinterlist oder Treue, Gewalt oder Friedfertigkeit das eine ist so biologisch wie das andere. Und für alles gibt es dem Anschein nach die entsprechenden epigenetischen Regeln. Wie soll man so zu Regeln zu Kriterien für ethisches Verhalten kommen, die dann , nach Wilson, auch noch "demokratisch" vereinbart werden sollen? Aber Demokratie, so scheint es, ist kein Prinzip der Natur. Andere Primatengesellschaften sind, soweit wir davon wissen, auch nicht sonderlich demokratisch.
Das einzige moralische Ziel, das Wilson tatsächlich benennt, ist das Überleben des Homo sapiens angesichts der drohenden ökologischen Katastrophe. Aber daraus lassen sich keine demokratischen Regeln ableiten. Der Erfolg eines Staates hängt historisch betrachtet nicht unbedingt davon ab, ob er eine Demokratie ist. Für das Überleben der Menschheit wäre eine -von niemandem gewünschte- Öko-Diktatur möglicherweise sogar effektiver. Und zur genetischen Vervollkommnung unserer Spezies, an der Wilson so sehr gelegen ist, könnten sogar schlimmste Verbrechen wie die Ermordung von Geisteskranken und Körperbehinderten beitragen.
Gesellschaftliche Probleme wie moralisches Verhalten können nicht einfach im Handumdrehen durch die Hirnforschung gelöst werden. Wilsons Versuch, die Moral der Zukunft aus neuronalen Algorithmen abzuleiten, ist ein heikles Geschäft; kaum zuverlässiger als das der Auguren Roms, die das Schicksal der Cäsaren aus der Kalbsleber lasen. Raffinierter erscheint da schon die Schablone Hubert Markls. Auch Markls Homo sapiens ist eine Figur aus dem Lehrbuch der Biologie. Danach wurde der Mensch durch nichts anderes zum Menschen als durch wissenschaftlichen Fortschritt und Technik. Wie der Vogel von seinen Flügeln abhängt, so werde der Mensch bestimmt durch seine Technik. Und diese wiederum bestimme das Wesen nicht der Menschheit, sondern, man höre und staune: der Menschlichkeit.
Bei solchen Voraussetzungen wird es nicht verwundern, daß Markls Lösung für die Zukunft in einem rasanten Mehr an Wissenschaft und Technik liegt. Nur auf diese Weise könne der Mensch sich vervollkommnen, das implantierte Programm der Natur vollständig erfüllen. Daß man dafür zwangsläufig auch ,,eine ganz neue, eine ganz andere Natur" in Kauf nehmen muß, entspreche halt dem Lauf der Evolution. Die ,,Pflicht zum Fortschritt" macht eben auch vor der Gentechnik und der Reproduktionsmedizin nicht halt. Die beabsichtigte Pointe könnte zugespitzter nicht sein: Wenn technischer Fortschritt das Wesen des Menschen, gar seine Humanität, ausmacht, ist jeder Widerstand gegen Technologie inhuman. Wie steht es dann aber mit der Entwicklung chemischer Kampfstoffe und Massenvernichtungswaffen?
Da ist es allemal beruhigend, daß Markls Gleichsetzung von wissenschaftlichem Fortschritt und Humanität gewiß keine zeitlose Wahrheit der Biologie ist Viele Paläoanthropologen aus der Zeit des Kalten Krieges hatten das Wesen des Menschen an seine Jagdtugend als Ursache des Gehirnwachstums gekoppelt.

Sorgen und Visionen
Um so lieber lebte die Sozialarbeiterepoche der späten siebziger und frühen achtziger Jahre mit der Vorstellung Richard Lenkeys, die Anforderungen des Sozialverhaltens hätten dem denkenden Affen sein gewaltiges Gehirn eingebracht. Wenn das Wunder des hypertrophen Menschengehirns heute durch die Technikentwicklung erklärt sein soll, so liegt auch dies im Trend. Als ideologische Reduktion einer Zeit, für die die Biotechnik das Wahre und die Ware ist.
Es scheint, daß sich die Naturwissenschaften mit einer Wesensbestimmung des Menschen und seiner ökologischen Zukunftsmoral nicht unbedingt leichter tun als die Geisteswissenschaften. Zuunterst schwankt auch hier der Boden. Der anfänglich so starke Eindruck des neuen biologischen Menschenbildes verliert sich in einer Wüste von Einzelheiten und Interpretationen. Gene und Neuronen haben durchaus andere Eigenschaften als Sinn. Und auch Wissenschaftler handeln unbezweifelbar in einem gesellschaftlichen Kontext. Er bestimmt ihre Deutungsmuster weit stärker, als manche nüchterne Formulierung es verrät.
Wissenschaft, auch und gerade Naturwissenschaft, ist nicht nur eine Frage der Wahrheit, sondern ebenso eine Frage von persönlichem Ehrgeiz, gesellschaftlicher Macht und ohnmächtige Erkenntnisse haben und Erkenntnisse umsetzen können ist zweierlei. So etwa werden Erkenntnisse medizinischer Forschung dann realisiert; wenn sie im Markt profitabel umgesetzt werden können; und sei es zu guter Letzt nur für diejenigen, die sie selbst bezahlen können. Fortschritten in der Zahnprothetik steht die wachsende Zahl derer gegenüber, die sich kein Gebiß leisten können.
Die Sache der Politik ist eine andere als die der Wissenschaft. Mögen sie auch beide vorgeben, dem Gemeinwohl zu dienen und eine bessere Moral für unser aller Zukunft zu wollen. Das Schöne an der Moral ist, daß man so leicht an sie appellieren kann. Es verpflichtet zu nichts Was sollte den Politiker daran hindern, ein neues Umweltbewußtsein einzufordern und die Abholzung des Tropenwaldes anzuprangern? Rezepte sind leicht zur Hand, man muß nur fordern, daß weniger Abgas in die Luft geblasen, weniger Kinder in die Welt gesetzt und weniger Ressourcen verbraucht werden. Solange die Schuld an den globalen Umweltkatastrophen nicht eindeutig zugerechnet wird oder werden kann, ist jeder Appell heiße Luft.
Bezeichnenderweise wiederholen auch konservative Ökoapostel den gleichen Fehler der folgenlosen Fundamentalanklage wie ihre linken Gegenspieler. Wohin der Weg in die Zukunft führen soll, so Markl, ,,das müssen die Menschen zuallererst selbst bestimmen". Doch die Menschen sind niemand, den zu belehren oder zu ermahnen sich lohnt. Die Menschheit ist eine Gemeinde1 der anzugehören zu nichts unmittelbar verpflichtet
Daß es nicht wirklich um ,,die Menschen" geht, ist auch Markl klar. Bestimmen sollen die Experten, die naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Eliten. Für ihre Lösungskompetenz und Moral wirbt er um ,,grundsätzliches" Vertrauen. Denn um die propagierten neuen Biotechniken tatsächlich zu entfesseln, muß zunächst der Boden bereitet werden. Gegen den ,,Angststillstand" und die ,,Gemeinschaftsangst" helfe nur ,,die Stärkung durch lebensertüchtigende Erziehung und Selbstdisziplin".
Für Markl ist Vertrauen das probate Mittel, die Beziehung der Menschen zu ihrer immer weniger durchschaubaren Umwelt zu stabilisieren. Statt konkrete Normen zu formulieren, bei deren Einhaltung es sich angstfrei leben ließe, erprobt der langjährige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft damit einen neuen Stil von Moral, gegründet auf ein gemeinsames Interesse an der Angstminderuug. Was ehemals eine Gewissensverpflichtung zur Angst war, ist heute die Pflicht, sich keine Sorgen mehr zu machen und den Wissenschaften zu vertrauen. Die Ungewißheit der Zukunft des Gefahrenindustrialismus wird ersetzt durch die Gewißheit des Vertrauens.
Die Wirkung dieses psychologischen Tricks dürfte freilich nicht lange anhalten. Nur die momentane zeitliche wie räumliche Ferne ökologischer Großkatastrophen garantiert seinen Erfolg. Ansonsten gerät, wer allzu laut um Vertrauen wirbt, leicht in die Gefahr, Angst erst zu erzeugen. Bei Licht betrachtet, ist nämlich die konservative Ökologie, auch wenn sie in der Maske der Vernunft daherkommt, nicht weniger emotional als jene der Entrüstungspessimisten. Schon die instrumentelle Vernunft der Emotion der Skeptiker vorzuziehen ist eine Gefühlsentscheidung: Markl spricht von der ,,Lust, die Angst zu überwinden«. Vertrauen, die blaue Blume der konservativen Ökologie, wächst nur auf metaphysischem Boden, ebenso wie Liebe und Hoffnung. Und wo wissenschaftliche Vernunft die Spielregeln vorzugeben scheint, herrschen weltanschauliche Vorurteile und handfeste Wirtschaftsinteressen. Etwas als vernünftig oder wahrhaft zu erkennen ist niemals nur eine Frage des Expertenwissens, sondern ebenso eine Frage der gesellschaftlichen Konvention.
Als Antwort auf die Frage nach der ökologischen Strategie für das kommende Jahrhundert tun die großen Synthesen der konservativen Ökologen kaum einen besseren Dienst als die Fundamentalanklagen der herkömmlichen Ökobewegung. Je größer der Wurf zu sein scheint, um so beschädigter treten die Einzelteile danach hervor Der Mensch, wie wir ihn
kennen, handelt nicht linear, sondern muß sich stets zwischen mehreren aus seiner Sicht sinnvollen Möglichkeiten entscheiden. Nicht pauschale Unvernunft oder ein dubioser ,,Todestrieb" bewirken heute die Zerstörung des globalen Ökosystems, sondern konkrete Wirtschaftliche Interesse. Dabei entstehen Konflikte, etwa jener zwischen Selbsterhaltung und Arterhaltung. Auf der einen Seite der Manager, der seinen Arbeitsplatz verliert, wenn er keinen Gewinn erwirtschaftet, auf der anderen Seite das metaphysische Konstrukt eines allgemeinen Menschheitsinteresses an langfristiger Arterhaltung. Zusammen treffen sie in der Regel nie.
Aus diesem Grund erscheint die ökologische Moral der konservativen Gegenaufklärer ebenso unspezifisch wie jeder linke Ökofundamentalismus. Im konkreten Einzelfall nämlich verpuffen die Anklagen auf eindrucksvoll ausdruckslose Weise. Ohne ein gesellschaftlich etabliertes Teilsystem, das tatsächlich für Ökologie zuständig ist, bleibt jedes ökologische Bedenken nichts als Sand im Getriebe der anderen. Weder Politik noch Wirtschaft, noch Wissenschaft denken, entsprechend ihrem berechtigen Selbstverständnis, genuin ökologisch.
Wie ein solches eigenständiges Teilsystem der Gesellschaft aussehen könnte, läßt sich bis heute nur in vagen Umrissen skizzieren. Sicher ist, daß der spezifische Code eines solchen Systems tatsächlich Moral sein müßte und nicht Macht oder Gewinn. Noch Mitte der neunziger Jahre hatten sich Nichtregierungsorganitionen und Umweltstiftungen wie Greenpeace oder der World Wide Fund for Nature (WWF) dafür angeboten, eine solche Rolle zu übernehmen. Doch auch hier hat der Angstverlust Spuren hinterlassen. Die Spendenaufkommen stagnieren oder gehen zurück. Das Interesse der Medien sinkt und mit ihm die moralische Einflußnahme auf die Gesellschaft. Die weltanschauliche Nährsubstanz der grünen Ökologie ist aufgezehrt in den Scharmützeln der Alltagspolitik. Und der Glaube an die Wunderlösungen der Technik ersetzt nicht die Diskussion um Werte und Sinnsetzungen, die mehr Kriterien kennt als das Überleben einer gesunden Menschheit.
Im Wettbewerb zweier großer Gefühle werden weder Angst noch Vertrauen allein der Gesellschaft die Devise für den Weg in die ökologische Zukunft liefern. Das blinde Dafür, mit neuer Risikotechnologie die ökologische Krise zu meistern, ist ebenso naiv wie das unspezifische Dagegen. Bei so viel Ideologie auf beiden Seiten wäre ein wenig mehr Zurückhaltung im Kampf der Moralrezepte angebracht. Die Natur kann nicht warten. Und neue Allianzen und Solidaritäten tun dringend not. Ein wenig mehr Angst auf der Seite der konservativen Ökologen gegenüber den von ihr unterstützten Risikotechnologien könnte dabei gewiß nicht schaden - sie gäbe Grund zum Vertrauen.
 


back to top of page
 


 
 
 


 

Last modified sept. 29th 1999