Projekt Hochschul-Reform 98 - HRG-AGs an der Uni Münster
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Utopie als Ort der Bildung
(Thorsten Zumloh und Tobias Gombert)
Seitdem die Hochschulreform diskutiert wird, ist die Frage, wie die Situation der Universitäten verbessert werden könnte, nur allzuoft an der Oberfläche der Effizienz steckengeblieben. Nicht die Zielvorstellung einer wirtschaftlich arbeitenden Hochschule ist an den konservativen Entwürfen zu kritisieren, - Konsens quer durch die politischen Lager ist, daß sich die Hochschule gesellschaftlich legitimieren können muß - vielmehr ist die Reduktion des Bildungsbegriffs zum bloßen Produktionsfaktor gefährlich.
Der Bildungsbegriff muß Prämisse für eine theoretisch und praktisch fundierte Hochschulreform werden, sonst fehlt die wichtigste Perspektive: Die Universität wird nicht mehr zum Ort für Bildung, sondern zum Dienstleistungsunternehmen. |
»Bildung geht vom Menschen aus und kommt beim Menschen an. Damit gewinnt das wirkliche Individuum einen einzigartigen Wert, weil es die Menschheit in sich aufbewahrt.« Bildung ist nicht umsonst zu einer zentralen Kategorie bürgerlicher Geschichte seit dem 18. Jahrhundert geworden: vom Einzelnen ausgehend, legitimierte sie den Herrschaftsanspruch einer Klasse, könnte aber auch als abstrakt-philosophisches Konzept gelesen werden, das sich dialektisch zum intersubjektiven Wissen verhielte.
Verräterisch hingegen erscheint in der Rede des Bundesforschungsministers Rüttgers nicht mehr »Bildung«, sondern »Wissen« als zentraler Begriff: »Der Weg von der Mediengesellschaft zur Wissensgesellschaft ist der Weg von der Information zur Bedeutung, von der Wahrnehmung zum Urteil.« Die Betonung der intersubjektiven Größe legt dann auch die Schwäche dieses Menschenbildes offen: »Wir steuern auf keine entmenschlichte, formatierte Gesellschaft zu, virtuell unterkühlt und von künstlicher Intelligenz beherrscht. Wir haben vielmehr die Chance, daß heute und in Zukunft mehr als zu jeder anderen Zeit das zählt, was im Englischen >human-capital< heißt und von dem uns - warum eigentlich? - ein eigenständiger Begriff fehlt.« Fraglich bleibt, wie der Wechsel von einer zur anderen Gesellschaftsform ohne die vermittelnde Instanz der Bildung erreicht werden soll. Außerdem wäre mit der Degradierung zum »human-capital« die »Heranbildung zur Maschine« verbunden: 150 Jahre nachdem das Manifest der Kommunistischen Partei erschienen ist, übermittelt Rüttgers einen Glückwunsch besonderer Art und läßt die kritische Erkenntnis zur sozialen Perspektive mutieren. Analog zum ideologischen Menschenbild, das nur dann Menschlichkeit zuläßt und einbezieht, wenn sie direkten Nutzen verspricht, sich jeder Widerständigkeit entledigt, reduziert sich Bildung auf die Vermittlung quantifizierbarer Datenmengen: »Alle 5 bis 7 Jahre verdoppelt sich das weltweit verfügbare Wissen. (...) Die Wachstumskurve des Wissens erscheint unendlich. Wissen ist unbegrenzt. Das aus der klassischen Nationalökonomie bekannte Gesetz der abnehmenden Erträge gilt nicht für Investitionen in die Wissensgenerierung.« Nicht eine unreflektierte, positivistische Wissensanhäufung, sondern reflektierte Erkenntnisfähigkeit muß Prämisse eines positiven Bildungsbegriffes sein.
Rüttgers legt auf einen solchen hingegen keinen Wert: »Vielmehr steckt in der Wissensgesellschaft die Chance zur Revitalisierung gemeinschaftsbildender Strukturen. (...) Je mehr wir wissen, umso weniger können wir auf den Nächsten und dessen Wissen verzichten.« Wie aber soll in einem sich weiter ausdifferenzierenden Gesellschafts- und Bildungssystem, in dem Interessen zwangsläufig divergieren, überhaupt Kommunikation oder Konsensbildung zustande kommen, wenn nicht kritische Erkenntnisfähigkeit, sondern Wissenszuwachs alleiniger Maßstab und Ziel sein soll?
Kritische Erkenntnisfähigkeit, die Ziel des Bildungsprozesses sein sollte, ergänzt sich mit »kommunikativer Vernunft« und bietet somit die Voraussetzung in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft, Konzepte zu erarbeiten. |
Die Konsensbildung fordert Habermas mit der Kategorie der »kommunikativen Vernunft« ein. Er konstituiert einen Konsens erst auf zweiter Ebene, weil die Vereinheitlichung des Materials, das heißt der einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnisse, nicht mehr funktionieren kann, sondern erst als Meta-Kommunikation, die eine gesellschaftliche Verständigung sekundär möglich macht. Maß die idealistische Bildungstheorie der akademischen Wissenschaft noch eine allgemein einheitsstiftende Bedeutung zu, so erscheint es Habermas, in diesem Fall mit der Systemtheorie übereinstimmend, als eine nicht mehr tragfähige Konstruktion: »Denn in modernen Gesellschaften bildeten sich autonome, keineswegs miteinander verschränkte Subsysteme heraus, die genau auf eine Funktion, auf nur eine Art von Leistungen spezialisiert seien.« Allerdings geht Habermas einen Schritt weiter als die Systemtheorie, da er ein »korporatives Bewußtsein« konzediert, das sich durch die »kommunikativen Formen der wissenschaftlichen Argumentation« herausbilde. Die Argumentationsformen »haben auf prononcierte Weise Teil an jener kommunikativen Rationalität, in deren Formen moderne, als nicht festgestellte, leitbildlose Gesellschaften sich über sich selbst verständigen müssen.«
Bildung ist das Medium, mit dem das Zufällige zum Widerständigen geformt werden kann. |
Was bleibt, ist Widerständigkeit, die bei Rüttgers hingegen nur noch ein Buchungsfehler sein kann. Sein reduktionistischer Begriff des Denkens schneidet die inkommensurablen, nicht berechenbaren Ecken weg, die seit jeher Ort des Widerständigen, Utopischen waren, denn längst wähnt Rüttgers, »daß mit Utopien keine Zukunft zu machen ist, höchstens eine düstere.« Umgekehrt: Gegen die düstere Zukunft ist nichts zu machen, es sei denn mit Utopien, im Sinne des Noch-nicht-Seienden, aber eben Denkbaren. Dieses vereinigt jedoch zwei zentrale Probleme auf sich:
Auch wer die Platitüde des Innovationsschubes einfordert, braucht den kreativen Gedanken. Dieser liegt jedoch nicht im empirischen, sondern im synthetischen Urteil, das relativ und nicht absolut zu setzen ist. Der kreative Gedanke erlahmt durch die Unterwerfung unter das Verwertbare, weil Synthetisches als empirisch behauptet wird.
Wenn dieses Synthetische als Unidentisches gedacht wird, ist einem positiv besetzten Utopiebegriff neuer Raum eröffnet.
Die Betonung des Widerständigen - von Adorno bis Lyotard wichtige Erkenntniskategorie - gewinnt so ihren Sinn, wie seine Legitimation in dem Demokratiemodell selbst begründet liegt, wenn es verwirklicht ist: »Allerdings wird dieser Legitimationsprozeß zum Bestandteil des Rechtssystems, weil er gegenüber den Kontingenzen der formlos flottierenden Alltagskommunikation selber der rechtlichen Institutionalisierung bedarf. Vorbehaltlich dieser Kommunikationseinschränkung wird das Dauerrisiko des Widerspruchs diskursiv auf Dauer gestellt und in die Produktivkraft einer präsumptiv vernünftigen politischen Meinungs- und Willensbildung umgewandelt.« Innerhalb dieser idealtypischen Kategorien ist Bildung als Basis zu sehen, wobei ihr eine individuelle und allgemein-politische Funktion zukommt. In der sich ausdifferenzierenden Wirklichkeit, die sich unabhängig vom Kollektiv oder dem Einzelnen entwickeln, bilden kann, ist es ungleich wichtiger für den Menschen geworden, sich zu bilden, also einen Prozeß der vernunftgesteuerten, selbstbestimmten Formung entgegenzusetzen. Damit soll die dialektische Verschränkung zwischen institutionalisierter Bildung und dem Zufall als kreativem Moment nicht aufgelöst werden. Vielmehr sollte der Zufall nicht als negative Fremdbestimmtheit durch das Unbekannte, sondern als Herausforderung zum Handeln in Kraft gesetzt werden. Erst wenn der Zufall in die Herrschaftsverhältnisse eingegliedert ist, wird es ihm möglich, diese aufzulösen: erst die Ratio kann ihm die Gefährlichkeit nehmen. Bildung müßte also die Vernunft - idealtypisch gedacht - in die Lage versetzen, die Gefahren des Zufalls in das gestaltende Moment des Widerständigen zu verwandeln.
Das Verhältnis von Bildung und ihrer Institutionalisierung muß dynamisch bleiben. |
Wenn Bildung und Kreativität notwendig verschränkt sein müssen, und die Kreativität nur in demokratischen Strukturen ihre volle gesellschaftliche Wirkung entfalten kann, dann muß Bildung in ihrem befreienden Charakter unabdingbar demokratisch sein.
Also doch: Utopie als Ort der Bildung? - Der Bildung ja, aber nicht der Hochschulen als ihrem Rahmen. Hat sich der Anspruch der bürgerlichen Schicht als ideologisch erwiesen, so darf er sich nicht in »sozialständischen« Hochschulstrukturen reproduzieren. Insofern ist der Übergang von der Ordinarien- zur Gruppenuniversität als Rahmen eines prozessual verstandenen Bildungsbegriffs nicht ausreichend gewesen. Gerade an der Hochschule, in der kritische Kompetenz zur demokratisch-kommunikativen Vernunft führen können sollte, kann Demokratie nicht als bloßes Deckmäntelchen umgetan werden.
Die Hochschule muß exemplarischer Ort einer Demokratie der Mündigen werden. Dazu ist ein Autonomiebegriff notwendig, der nicht - wie in der heutigen Diskussion - auf die Freiheit des Managements reduziert wird. Er geht von der Freiheit des Einzelnen gegenüber der Universität und der Universität gegenüber dem Staat für die Gesellschaft aus, ohne auf Leistungsansprüche zu verzichten. Kein Selbstbedienungsladen für die Industrie, sondern »sich seines Verstandes selbst zu bedienen« ist intendiert. Keine Übertragung von (zweifelhaften) industriellen Erfolgsstrategien auf die Hochschulstrukturen, sondern die eigenverantwortliche (und damit freie) Ausbildung sollten Maßstab werden, um dann in der Beispielhaftigkeit vom Besonderen auf das Allgemeine übertragen werden zu können.
Die Dialektik von Bildung und ihrer Institutionalisierung kann nicht statisch fest-gestellt werden, verweist vielmehr auf die Notwendigkeit, den demokratisch legitimierten Prozeß zu ermöglichen: Kategorien und konkrete Modelle müssen unterschieden werden. Kategorien, die bildungs- und gesellschaftstheoretisch entwickelt werden, scheitern nicht zwangsläufig zusammen mit den konkreten Modellen. Insofern müssen einzelne Maßnahmen an ihrer Potenz gemessen werden, Bildung in historischer, sozialer und politischer Hinsicht realiter zu fördern. Dies kann nur an den Universitäten selbst und mit einer kritischen Öffentlichkeit gelingen: eine Institutionalisierung des Prozesses ist notwendig. Einen guten Ansatzpunkt dazu bietet das Kuratoriumkonzept, das innerhalb dieses Projektes erarbeitet wird.
Keine Bildung kann sich ohne Demokratie entwickeln, aber es kann auch kein demokratisches Bewußtsein ohne einen starken Bildungsbegriff geben. |
Utopie als Ort der Bildung (Thorsten Zumloh und Tobias Gombert) Stand: 11. Juni 1996