Projekt Hochschul-Reform 98 - HRG-AGs an der Uni Münster
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Utopos als Ort der Bildung - Theoretische und praktische Bemerkungen zur Hochschuldebatte
(Thorsten Zumloh und Tobias Gombert)
Ein Unterschied in der Richtung
»Die Entstehungsbedingungen des Wissens selbst brauchen den sozialen Kontext. Für Wilhelm von Humboldt galt noch das Ideal von der Forschung in >Einsamkeit und Freiheit<. Die heutige Forschungspraxis dagegen braucht Freiheit, aber Einsamkeit wäre ihr Ende.«
»Sondern daß Begabung, wir sehen das etwa am Verhältnis zur Sprache, an der Ausdrucksfähigkeit, an all diesen Dingen, ihrerseits in einem eminenten Maß Funktion gesellschaftlicher Bedingungen ist, so daß schon die Voraussetzungen der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, von der Unfreiheit der Gesellschaft determiniert ist.«
Der Gelehrte im Dachstübchen ist tot, die Forschergrüppchen in den Elfenbeintürmen umso lebendiger. Der einsame Forscher wäre heute ohnehin kaum mehr denkbar angesichts der Komplexität der ausufernden Wissenschaft. Doch weniger ein »herrschaftsfreier Diskurs«, sondern wie man zu ihm gelangt, muß die Frage sein: indem die Unfreiheit der Gesellschaft auf den freien Gelehrten zurückstrahlt, ist seine Freiheit administrativ, wenig reflektiert deswegen die Annahme, die unfreie Gesellschaft könne den freien Forscher hervorbringen; wo sie dazu in der Lage sein soll, wird die Autonomie erst zur Einsamkeit, noch mehr wo die Freiheit gelänge. Die unfreie Gesellschaft ist dabei nicht als sozialistischer Gemeinplatz zu verstehen, sondern im Sinne Adornos, der die Utopie der freien Gesellschaft als Fluchtpunkt permanenter dialektischer Arbeit ansieht. Sie ist kein Zustand, die unfreie hingegen schon, fraglich nur der Grad der Determination.
Der ideologische Bruch wird in Rüttgers Rede dort offenbar, wo Bildung und Lebenswelt nicht aneinander gebunden werden. Dagegen hatte Habermas 1967 noch »die gleiche Hoffnung wie Schelsky, daß in dieser Dimension der wissenschaftskritischen Selbstreflexion die lebensweltlichen Bezüge der Forschungsprozesse aus diesen selbst heraus transparent gemacht werden könnten, und zwar nicht nur die Bezüge zu den Verwertungsprozessen wissenschaftlicher Informationen, sondern vor allem die Bezüge zur Kultur im ganzen, zu allgemeinen Sozialisationsvorgängen, zur Fortbildung von Traditionen, zur Aufklärung der politischen Öffentlichkeit.«
Indem gesellschaftliche Wirklichkeit und universitäres Bildungsideal verschränkt sind, rückt der Einzelne und seine Möglichkeit sich zu bilden in den Blickpunkt; ist doch die Lebenswelt nicht nur >philosophische Struktur<, sondern konkrete soziale Situation einzelner. Die Verknüpfung von lebensweltlicher Praxis und Bildungsbegriff wird unter ökologischem Gesichtspunkt auch von Becker und Wehling untersucht. Hier ist die Lebenswelt mitgedacht, indem die Wissenschaft die Aufgabe haben soll, die Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu lösen, gerade weil die kritische Analyse des Hochschulwesens vorangestellt wird: »Daß die Universitäten der Zukunft Orte sein könnten, an denen die Gesellschaft sich selbst begreift, wo phantasievolle Alternativen zur Gegenwart bis hin zur technischen Realisierung ausgearbeitet werden, wo das verfügbare Wissen zur Bewältigung der Überlebenskrise der Gattung zusammengeführt wird, wo globale Krisen mit lokalen Handlungsmöglichkeiten verknüpft werden - dafür gibt es in der Metaphorik des neueren Diskurses über Wissenschaft und Hochschulen wenig Anzeichen.«
Erst eine doppelte Fundierung, eine Fundierung in Theorie und Praxis ebnet den Weg zu einem differenzierteren Bildungsbegriff, kann doch die Reflexion des Individuums unter abstrakt-philosophischer Perspektive nicht erspart bleiben: »Bildung geht vom Menschen aus und kommt beim Menschen an. Damit gewinnt das wirkliche Individuum einen einzigartigen Wert, weil es die Menschheit in sich aufbewahrt.« Nicht Bildung, Ausbildung oder Forschung sind frei, sondern der Prozeß der Bildung ist ein ständiger Akt der Befreiung.
Vom Produktionsfaktor zum Menschlichen
»Wir steuern auf keine entmenschlichte, formatierte Gesellschaft zu, virtuell unterkühlt und von künstlicher Intelligenz beherrscht. Wir haben vielmehr die Chance, daß heute und in Zukunft mehr als zu jeder anderen Zeit das zählt, was im Englischen >human-capital< heißt und von dem uns - warum eigentlich? - ein eigenständiger Begriff fehlt.«
Wenigstens legt sich die Ideologie nur einen dezenten Schleier um: in aller Öffentlichkeit wird der Mensch zum Material erklärt: »Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Menschen aus, dazu paßt die Bereitschaft andre als amorphe Masse zu behandeln.« Mit der Degradierung zum »human-capital« wäre die »Heranbildung zur Maschine« verbunden: 150 Jahre nachdem das Manifest der Kommunistischen Partei erschienen ist, übermittelt Rüttgers einen Glückwunsch besonderer Art und läßt die kritische Erkenntnis zur sozialen Perspektive mutieren. Analog zum ideologischen Menschenbild, das nur dann Menschlichkeit zuläßt und einbezieht, wenn es direkten Nutzen verspricht, sich jeder Widerständigkeit entledigt, reduziert sich Bildung auf die Vermittlung quantifizierbarer Datenmengen: »Alle 5 bis 7 Jahre verdoppelt sich das weltweit verfügbare Wissen. (...) Die Wachstumskurve des Wissens erscheint unendlich. Wissen ist unbegrenzt. Das aus der klassischen Nationalökonomie bekannte Gesetz der abnehmenden Erträge gilt nicht für Investitionen in die Wissensgenerierung.« Der gefährliche Reduktionismus wird auch hier von Adorno und Horkheimer enttarnt: »Das Vorfindliche als solches zu begreifen, den Gegebenheiten nicht bloß ihre abstrakten raumzeitlichen Beziehungen abzumerken, bei denen man sie dann packen kann, sondern sie im Gegenteil als die Oberfläche, als vermittelte Begriffsmomente zu denken, die sich erst in der Entfaltung ihres gesellschaftlichen, historischen, menschlichen Sinnes erfüllen - der ganze Anspruch der Erkenntnis wird preisgegeben.« Nicht eine unreflektierte, positivistische Wissensanhäufung, sondern reflektierte Erkenntnisfähigkeit muß Prämisse eines positiven Bildungsbegriffes sein.
Rüttgers legt auf einen solchen hingegen keinen Wert: »Vielmehr steckt in der Wissensgesellschaft die Chance zur Revitalisierung gemeinschaftsbildender Strukturen. (...) Je mehr wir wissen, umso weniger können auf den Nächsten und dessen Wissen verzichten.«
Wie aber soll in einem sich weiter ausdifferenzierenden Gesellschafts- und Bildungssystem, in dem Interessen zwangsläufig divergieren, Konsensbildung zustande kommen, wenn nicht kritische Erkenntnisfähigkeit, sondern Wissenszuwachs alleiniger Maßstab und Ziel sein soll? Die Konsensbildung immerhin fordert Habermas mit der Kategorie der »kommunikativen Vernunft« ein. Er konstituiert einen Konsens erst auf zweiter Ebene, weil die Vereinheitlichung des Materials, das heißt der einzelnen wissenschaftlichen Erkenntnisse, nicht mehr funktionieren kann, sondern erst als Meta-Kommunikation, die eine gesellschaftliche Verständigung erst sekundär möglich macht. Maß die idealistische Bildungstheorie der akademischen Wissenschaft noch eine allgemein einheitsstiftende Bedeutung zu, so erscheint es Habermas, in diesem Fall mit der Systemtheorie übereinstimmend, als eine nicht mehr tragfähige Konstruktion: »Denn in modernen Gesellschaften bildeten sich autonome, keineswegs miteinander verschränkte Subsysteme heraus, die genau auf eine Funktion, auf nur eine Art von Leistungen spezialisiert seien.« Allerdings geht Habermas einen Schritt weiter als die Systemtheorie, da er ein »korporatives Bewußtsein« konzediert, das sich durch die »kommunikativen Formen der wissenschaftlichen Argumentation« herausbilde. Die Argumentationsformen »haben auf prononcierte Weise Teil an jener kommunikativen Rationalität, in deren Formen moderne, als nicht festgestellte, leitbildlose Gesellschaften sich über sich selbst verständigen müssen.«
Das Konzept der Widerständigkeit
Was bleibt, ist Widerständigkeit, die bei Rüttgers hingegen nur noch ein Buchungsfehler sein kann. Sein reduktionistischer Begriff des Denkens schneidet die inkommensurablen Ecken weg, die seit jeher Ort des Widerständigen, Utopischen waren, denn längst wähnt Rüttgers, »daß mit Utopien keine Zukunft zu machen ist, höchstens eine düstere.« Umgekehrt: Gegen die düstere Zukunft ist nichts zu machen, es sei denn mit Utopien, im Sinne des Noch-nicht-Seienden, aber eben Denkbaren. Dieses vereinigt jedoch zwei zentrale Probleme auf sich:
Auch wer die Platitüde des Innovationsschubes einfordert, braucht den kreativen Gedanken. Dieser liegt jedoch nicht im empirischen, sondern im synthetischen Urteil, das relativ und nicht absolut zu setzen ist. Der kreative Gedanke erlahmt durch die Unterwerfung unter das Verwertbare, weil Synthetisches als empirisch behauptet wird.
Wenn dieses Synthetische als Unidentisches gedacht wird, ist einem positiven Utopiebegriff neuer Raum eröffnet.
Will man an einem wie immer gearteten Fortschrittsglauben festhalten - und ein simples Back-to-nature-Programm entfällt ohnehin -, kann er nur in der partikularen Negation des Bestehenden liegen, im Unidentischen und nicht im Vorhandenen. Zugleich hat sich aber die Totalität der Fortschrittskategorie in vielerlei Hinsicht aufgelöst: einerseits fehlt ihr die Einheitlichkeit, andererseits führt sie in der Konsequenz dialektisch zur Krise, die eben zum Fortschreiten mahnt. Die Betonung des Widerständigen - von Adorno bis Lyotard wichtige Erkenntniskategorie - gewinnt so ihren Sinn, wie seine Legitimation in dem Demokratiemodell selbst begründet liegt, wenn es verwirklicht ist: »Allerdings wird dieser Legitimationsprozeß zum Bestandteil des Rechtssystems, weil er gegenüber den Kontingenzen der formlos flottierenden Alltagskommunikation selber der rechtlichen Institutionalisierung bedarf. Vorbehaltlich dieser Kommunikationseinschränkung wird das Dauerrisiko des Widerspruchs diskursiv auf Dauer gestellt und in die Produktivkraft einer präsumptiv vernünftigen politischen Meinungs- und Willensbildung umgewandelt.« Innerhalb dieser idealtypischen Kategorien ist Bildung als Basis zu sehen, wobei ihr eine individuelle und allgemein-politische Funktion zukommt. In der sich ausdifferenzierenden Wirklichkeit, die sich unabhängig vom Kollektiv oder dem Einzelnen entwickeln, bilden kann, ist es ungleich wichtiger für den Menschen geworden, sich zu bilden, also einen Prozeß der vernunftgesteuerten, selbstbestimmten Formung entgegenzusetzen. Damit soll die dialektische Verschränkung zwischen institutionalisierter Bildung und dem Zufall als kreativem Moment nicht aufgelöst werden. Vielmehr sollte der Zufall nicht als negative Fremdbestimmtheit durch das Unbekannte, sondern als Möglichkeit des Handelns in Kraft gesetzt werden. Erst wenn der Zufall in die Herrschaftsverhältnisse eingegliedert ist, wird es ihm möglich, diese aufzulösen: erst die Ratio kann ihm die Gefährlichkeit nehmen. Sie ist das Medium, mit dem das Zufällige zum Widerständigen geformt werden kann.
Bildung müßte also die Vernunft - idealtypisch gedacht - in die Lage versetzen, die Gefahren des Zufalls in das gestaltende Moment des Widerständigen zu verwandeln.
Die Hebamme des Unidentischen
Die Korporation, 'Identität' der Hochschule stünde damit im Kontrast zum Anspruch, das Unidentische zu gestalten. Ausbildung als institutionalisierte Bildung erscheint dann als ein Paradoxon, wenn die komplexe Erkenntniskategorie 'Bildung' als praxisfernes Winken aus dem Elfenbeinturm verfemt wird. (Auf diesem Gebiet ist von vielerlei Seiten schon beträchtlicher Fortschritt erzielt worden.)
Ähnliche Überlegungen lassen sich auch schon bei Humboldt nachweisen, dessen Bildungsideal zwar vom Individuum aus gedacht war, aber durch das Gleichheitsprinzip und die aus ihm folgende Einheit von Forschung und Lehre zugleich eine allgemeine Fundierung gewährleistet: »Der wahre Zweck des Menschen - nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondernwelchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt - ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.« Den smarten Verfechtern des Dienstleistungsunternehmens Hochschule muß dann auch Humboldts Verständnis von Universität ein Dorn im Auge sein: sie ist »im Sinne Humboldts (...) weder eine Korporation der Lehrenden, die sich im Besitze des Wissens befinden, das sie den Studenten vermitteln, noch eine 'Forschungsuniversität', sondern eine wissenschaftliche Bildungsanstalt für jüngere und ältere 'Studenten', die verschiedene Vollkommenheitsgrade in der Bildung ihrer Individualität durch wissenschaftliche Erkenntnissuche erreicht haben, in diesem Streben aber gleichrangig nebeneinander stehen.«
Bei Humboldt war in dem Gemeinschaftsideal die Lebenswelt mitreflektiert, obwohl sie es nicht war: das sind die Grenzen des Bildungsbürgertums. Bei Rüttgers besteht das umgekehrte Problem: hier ist die Lebenswelt nicht mitreflektiert, obwohl es behauptet wird. Zu was anderem könnte ein verschulter Bachelor-Abschluß führen als zum aktuellen Wissensstand ohne kritische Methode des Aneignens? Das ist vor dem Hintergrund der rasanten Geschwindigkeit, mit der sich Wissensstände weiterentwickeln, ohne daß sie zum Selbstzweck werden dürfen, der falsche Weg. Ähnliches gilt für die finale Perspektive, die sowohl der Regelstudienzeit als auch der Frage nach inneruniversitärer Studienreform inhärent ist. Darin liegt ein Grundproblem der HRG-Novelle: sie schreibt fest, was der inhaltlichen Entwicklung unterliegen müßte. In dieses Bild paßt sich auch das Beschneiden demokratischer Strukturen unter dem Banner der Effizienzsteigerung ein.
Der idealistische Bildungsbegriff Humboldts aus dem beginnenden 19. Jahrhundert und damit der Epoche bürgerlichen Aufstiegs wird zur Ideologie, wenn man ihn auf die heutige Zeit übertragen wollte. Bildung kann sich nicht mehr an der Einheit einer Klasse orientieren, sondern an der Verständigung auf zweiter Ebene, wie Habermas sie schon gegeben sieht. Sie wird hingegen durch die bestehenden Gremien, durch die Entkoppelung von Öffentlichkeit und Entscheidungsgremien eher behindert denn gefördert. Habermas' harmonisierende Sicht ist dementsprechend in der Realität schwer wiederzufinden, auch weil nicht nur die Gruppe der Studierenden in der Mehrzahl häufig genug 'strategisch' handelt. Ein Weg, die Meta-Kommunikation in die Realität zu holen, ist dabei vielleicht schon von SDS-Vertretern in den 1960er Jahren aufgezeigt worden. Frappierend mutet an, daß die dort beklagten Defizite heute zu noch größeren Mißständen geworden sind, wie an der Frustration großer Teile des Mittelbaus ablesbar ist. Ständige Überlastung, geringer Einfluß in den Gremien, steigende Studierendenzahlen bei gleichzeitig stagnierenden Mitteln lassen eine an Inhalten orientierte Hochschulreform notwendig werden, wobei zunächst eine Aufstockung der Mittel unabdingbar ist. Dieser Gemeinplatz gewinnt aber vor dem Hintergrund eines Bildungsbegriffes Tragfähigkeit, der Ausbildung nur als Rahmen definiert.
Die Institutionalisierung von Prozessen
Die 'praxisnahen' Reformvorschläge Rüttgers' und des CHE führen nicht dazu, den Elfenbeinturm zu überwinden, sondern man glaubt im Sinne des Neoliberalismus, die marode Wirtschaft könne sich mit Schützenhilfe von jeder Seite, aus sich selbst heraus regenerieren: man vertraut dem Wissenswachstum. Zudem reproduziert man nur die Hierarchie, das Oben und Unten. Das Hochschulwesen ist damit nur ein Beispiel für das, was den meisten Bereichen des sozialen Lebens widerfährt. Sie werden einem »wild gewordenen Kapitalismus« untergeordnet, der sich als »fortschrittlich, vernünftig, wissenschaftlich« verkauft und der, wie Pierre Bourdieu betont, eigentlich eine »konservative Revolution« ist: »Nun verkörpert der Neoliberalismus eine mächtige Wirtschaftstheorie, die durch ihre symbolische Kraft, die Macht von wirtschaftlichen Realitäten steigert, deren Ausdruck sie eigentlich sein sollten.« Die Krise unserer Wirtschaft soll behoben werden, indem das soziale Leben wirtschaftlicher wird: Soziale Marktwirtschaft hieße dann, sozial zur Marktwirtschaft sein zu müssen.
Die Dialektik von Bildung und ihrer Institutionalisierung kann nicht statisch fest-gestellt werden, verweist vielmehr auf die Notwendigkeit, den Prozeß zu ermöglichen: Kategorien und konkrete Modelle müssen unterschieden werden. Kategorien, die bildungs- und gesellschaftstheoretisch entwickelt werden, scheitern nicht zwangsläufig zusammen mit den konkreten Modellen. Insofern müssen einzelne Maßnahmen an ihrer Potenz gemessen werden, Bildung in historischer, sozialer und politischer Hinsicht realiter zu fördern.
Daher sollen zwei Reformmodelle exemplarisch vorgestellt werden, die ihre eigene Historizität mitreflektieren, dadurch, daß die praktischen Vorschläge von Kategorien geleitet sind, die einen utopischen Gehalt aufweisen.
Ein an Humboldts Bildungsideal orientiertes Modell wird in dem Band Hochschule in der Demokratie von 1965 unter dem Schlagwort »Hochschulreform für die Demokratie« versucht. Über die Kritik an der Ordinarien-Universität hinaus sind die Reformvorschläge von der Zielvorstellung bestimmt, die Hochschule müsse exemplarischer Ort einer Demokratie der Mündigen werden. Dazu ist ein Autonomiebegriff notwendig, der nicht - wie in der heutigen Diskussion - auf die Freiheit des Managements reduziert wird. Er geht von der Freiheit des Einzelnen gegenüber der Universität und der Universität gegenüber dem Staat für die Gesellschaft aus, ohne auf Leistungsansprüche zu verzichten. Kein Selbstbedienungsladen für die Industrie, sondern »sich seines Verstandes selbst zu bedienen«, ist intendiert. Keine Übertragung von (zweifelhaften) industriellen Erfolgsstrategien auf die Hochschulstrukturen, sondern die eigenverantwortliche (und damit freie) Ausbildung sollten Maßstab werden, um dann in der Beispielhaftigkeit vom Besonderen auf das Allgemeine übertragen werden zu können. Das Reformkonzept basiert auf dem bewußten Willen, die Arbeitsleistung von Forschung und Lehre strukturell zu verbessern, also eine ganz andere Form von Effizienzsteigerung. Die Autoren schlagen sechs wesentliche Ansatzpunkte einer inneren Hochschulreform vor:
Forschung als Kollektivleistung - Die Explosion der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Publikationen setzen den allein arbeitenden Forscher in das Licht des Antiquierten. Erst durch die »neue antihierarchische Sozialform der Forschung« lasse sich individuelle Autonomie mit intersubjektiver Forschungsleistung verbinden. Autorität wäre dann nicht mehr an Personen, sondern an der abstrakten Gemeinsamkeit orientiert, die zur Begründbarkeit vor der Allgemeinheit und zur Motivation des Einzelnen führen könnte. Dieser Gedanke wird auch auf die Lehre übertragen, indem die starre Rollenverteilung von Seminarleitern und -teilnehmern aufgebrochen werden könnte: die Fixierung auf den Seminarleiter soll zur Fixierung auf das Seminarthema werden, an dem sich alle Beteiligten gleichermaßen abarbeiten.
Prinzip der Rotation - Gerade die Einheit von Forschung und Lehre fordere, gespiegelt auf den einzelnen Lehrenden, Schwerpunkte in einem der Bereiche zu setzen. Mit einer neuen Arbeitsaufteilung innerhalb der Gruppe der Hochschullehrer seien Spezialisierungsmöglichkeiten verbunden. Damit müsse der einzelne Lehrende nicht mehr alle Funktionen (Lehre, Forschung und Koordination) zugleich übernehmen. Dagegen sollten, so die Autoren, die Lehrenden des Mittelbaus von der Festlegung auf die Lehre befreit werden, um eine an der aktuellen Forschung orientierte Lehre zu gewährleisten. Entgegenzuhalten ist dem Rotationsprinzip, daß ein Bildungsbegriff, der Forschung und Lehre als Einheit denkt, eine Spezialisierung nicht zuläßt, zumal sie der Verwaltung der Studierenden mit der Lehre verpflichtet scheint.
Entlastung von der Organisation - Durch ein differenziertes Beschäftigungssystem und eigenständige organisatorische Arbeit könnten Forschung und Lehre entlastet werden.
Gleichstellung der Institute - Die demokratischen Gremien, die über die Institute hinaus Verbindungen und eine Enthierarchisierung schaffen sollten, haben sich inzwischen in einigen Fällen als kontraproduktiv erwiesen. Die Stellung der Dekane und des Rektorats zu stärken, wie es das CHE und die Bundesregierung empfohlen haben, ist hingegen der falsche Weg. Eher wäre eine neue inneruniversitäre Öffentlichkeit anzustreben, die die Verbindung der Dekane / des Rektorats zu den einzelnen Instituten und deren Mitgliedern verbessern könnte. Ähnlich wie das Modell des Forschungskollektivs ist dann auch zwischen den Instituten eine wechselseitige Beziehung ihrer Freiheit und der Begründung vor der abstrakten Gemeinsamkeit zu fördern. Um solche Strukturen nicht a priori zu Luftschlössern werden zu lassen, muß jedoch sowohl eine Begründbarkeit eingefordert wie die Vergabe von Forschungsgeldern an die demokratischen Strukturen gebunden werden.
Konkurrenzprinzip - Auch wenn die Übertragung des gesellschaftlichen Leistungsgedankens als Legitimation für alle Stellenbesetzungen wünschenswert ist, wäre der damit verbundene Zeitaufwand nicht zu leisten. Auch hier ist eher ein Modell der kritischen Öffentlichkeit anzustreben, der Forschungsvorhaben und -ergebnisse vorgestellt werden müßten. Dies ist dann auch der geforderten kritischen Zusammenarbeit verpflichtet, was sich allerdings auch in den »Aufstiegsmodalitäten« (Magisterarbeit, Dissertation, Habilitation) niederschlagen müßte. Einzelleistung und wissenschaftlich kommunikative Vernunft sind als gleichwertig zu betrachten, so daß es sinnvoll ist, nur eine Arbeit (Dissertation) als Einzelleistung festzuschreiben.
Neugliederung des Lehrkörpers - Der Vorschlag, formale Grenzen zugunsten inhaltlich begründeter aufzugeben, ist innerhalb des Modells stringent. Professoren mit mehr Erfahrung Überblicksvorlesungen abhalten zu lassen, während die Assistenten Lehrveranstaltungen aus ihren Forschungsschwerpunkten anbieten, ist ebenso sinnvoll. Die Aufgabenverteilung innerhalb eines Institutes solle nicht durch die Hierarchie, sondern durch fachliche Kompetenzen entschieden werden, sicherlich vor dem Hintergrund der Studierendeninteressen.
»>Hochschulreform< außerhalb der Hochschule« - Die Hochschule binde sich an die Gesellschaft, indem sie Probleme der lebensweltlichen Praxis erforsche und die Rückprojektion ihrer Forschungsleistung der kritischen Überprüfung aussetze, was sich nicht zum Technologietransfer oder zur Untertanenfabrik reduzieren läßt, solange kritische Reflexion aufrechterhalten bleibt: »Ein solcher wechselseitiger rationaler Klärungsprozeß zwischen kritischer wissenschaftlicher Intelligenz und der praktisch-politischen Intelligenz aktiver Staatsbürger und ihrer Interessenvertreter, kann allein gewährleisten, daß die Wissenschaftler in der Planung und Organisation ihrer Arbeit sich weder herrschenden Sonderinteressen der Machteliten noch den vielfach ebenso in Vorurteilen und Ideologien befangenen kurzsichtigen Interessen der abhängigen Massen und Gruppen ausliefern.«
Unabhängig von den Vorschlägen des SDS scheint die Mittelvergabe für öffentliche Foren sinnvoller als durch sie; die Gefahr, die Hochschulen zu instrumentalisieren, wäre sonst zu groß. Allerdings sollte neben einer prozentual fixen Mittelvergabe ein zusätzlicher Fonds eingerichtet werden, dessen Aufteilung sozialen Projekten, Forschungsvorhaben und ähnlichem vorbehalten bleibt, die über die öffentliche Vorstellung gesellschaftliche Legitimation erreichen.
Wenn die Universität ihre Legitimation im Unidentischen finden soll, dann kann sie die reale Unterdrückung vieler nicht unberührt lassen. Sie ist der Ort, an dem Herrschaftsideologien als Machtmechanismen aufgedeckt werden müssen, nur so erlangt sie die Legitimation ihrer Autonomie. Obwohl diese Legitimation nicht direkt gemessen werden kann, »ist gleichwohl gesellschaftlich relevant, daß wenigstens die bereits auftretenden und geäußerten Interessen und Ansprüche an die Wissenschaft aus den abhängigen oder unterprivilegierten sozialen Gruppen systematisch formuliert werden.«
Weniger klassenkämpferisch nimmt sich Beckers und Wehlings Buch Risiko Wissenschaft aus. Es versucht in drei wesentlichen Punkten ein Konzept, das - nicht zuletzt in der Modifikation des SDS-Bandes - bis zu konkreten Maßnahmen reicht.
Enthierarchisierung - Obwohl das Konzept der Gesamthochschulen im ersten Anlauf gescheitert sei, halten die Autoren an dieser Idee fest, jedoch im Bewußtsein, daß eine einfache Zusammenlegung der einzelnen Hochschultypen zu einer großbürokratischen Einheit als Konzeption nicht ausreicht, da sie die Hierarchisierung nicht aufheben kann. So sei es zu den auffälligen, den »lähmenden Statuskämpfen der Professoren«, der »Nivellierung produktiver Differenzen« und dem »starken Verschulungsdruck« in der Gesamthochschule gekommen. Die starre Differenzierung zwischen praxisbezogener Forschung in den Fachhochschulen und theorieorientierter, grundlagenbezogener Wissenschaft in den Universitäten und Technischen Hochschulen solle zugunsten der »problemorientierten Forschung« neu gewichtet werden, um eine Vernetzung aufzubauen, die sich beispielsweise in »regionalen Verbundsstrukturen« ausdrücken könne. In diesen würden Wissenschaftler verschiedener Hochschultypen gemeinsame Projektarbeit leisten.
Erst wenn die Hierarchien abgebaut sind, ließen sich »klassische Universitätsstudiengänge wie Jura, VWL und Medizin« an den Fachhochschulen organisieren. Dann müßte allerdings die Einheit von Forschung und Lehre ebenso gesichert sein wie eine stärkere Durchlässigkeit zwischen den Hochschultypen. Allerdings muß die Autonomie der einzelnen Hochschule gewahrt bleiben, das Projekt der Enthierarchisierung kann nicht als ein von der Politik oktroyiertes funktionieren.
Umbau des Besoldungsgefüges - Wissenschaftliche Reputation ist in Deutschland weitgehend von der Lehre entkoppelt; entsprechend stiefmütterlich wurde diese auch behandelt. Becker und Wehling wollen dagegen das starre Besoldungsgefüge aufbrechen und Wissenschaftlern, die sich auf die Forschung spezialisieren, nur noch ein Grundgehalt (BAT II a) zahlen und »erfolgreiche Forschung« extra honorieren, da bislang Untätigkeit in der Forschung nicht sanktioniert wird. Vernünftig dabei die Einschränkung, der einzelne Forscher solle solche Spezialisierung nur periodisch vornehmen, um Forschung und Lehre nicht voneinander zu lösen. Das große Problem bei diesem - wie bei allen anderen - Vorschlägen, Wissenschaftler nach Leistung zu bezahlen, ist die Frage nach der Evaluation. Wenn Wissenschaft wirklich das Widerständige fordern, das Unbekannte hervorbringen soll, wird dies ja gerade in der Wissenschaft auf Widerstand stoßen, das heißt, die beste Forschungsleistung wäre vielleicht genau diejenige, die am schlechtesten bezahlt würde. Erst ein Evaluationsverfahren, das den Weg aus der Aporie weist, könnte zu einer leistungsbezogenen Besoldung führen, die prinzipiell sehr wünschenswert ist. Becker und Wehling entwickeln zwar kein konkretes Verfahren, sie geben jedoch Kategorien vor, von denen Evaluation abhängen müßte, nämlich Öffentlichkeit und interdisziplinäres Arbeiten an sozio - ökologisch relevanten Fragestellungen.
Innere Hochschulreform - Becker und Wehling versuchen dem viel diskutieren Thema eine neue ökologische Perspektive zu geben. Diese sei gerade im Blick auf Berufsfelder notwendig, in denen ökologische Kenntnisse unabdingbar geworden seien, z.B. in der Medizin. Dazu müßten umweltspezifische Kenntnisse im Studium ebenso vermittelt werden wie die Fähigkeit, interdisziplinär und projektbezogen zu arbeiten.
Wenn man jedoch das Curriculum verändern wolle, müsse zuerst eine öffentliche Debatte darüber geführt werden; außerdem gehe dieser Ansatz nicht weit genug. Becker und Wehling wollen vielmehr eine tiefgreifende Strukturreform, die - ökologisch orientiert - »Lern- und Arbeitsformen verändern und darüber hinaus in die institutionellen Beziehungen von Lehre und Forschung eingreifen. Es ist eine inzwischen gesicherte Erfahrung, daß derartige Reformen nur im Zusammenspiel hochschulinterner Reformdiskussionen, öffentlicher Kontroversen über die Zukunft von Wissenschaft und Gesellschaft und staatlicher Vorgaben zu realisieren sind.« Ein solches Projekt wäre die Aufgabe für die innere Hochschulreform, ein Beweis dafür, daß die Streichung dieses Paragraphen aus dem HRG der falsche Weg sein muß. Wirklich sinnvoll sei eine ökologisch orientierte Studienreform jedoch nur von den Betroffenen und mit Blick auf regionale wie hochschulspezifische Qualitäten zu leisten, um dann erst über die 'Straffung' der Studiengänge zu diskutieren.
Mit den drei genannten Reformaspekten ist ein Konzept umrissen, das der Aufgabe »ständiger Hochschulreform« (§8 des alten HRG) durch die Hochschulen selbst Rechnung tragen kann.
Zur Reziprozität von Bildung und Demokratie
»Demokratische Herrschaft im Sinne kollektiver Selbstbestimmung setzt die Einheit des in einem Verband zusammengeschlossenen Volkes voraus und suboniert die Möglichkeit allgemeiner Regelungen, die alle Herrschaftsunterworfenen in prinzipiell derselben Weise belasten oder begünstigen. Die Verfassung der verbandsinternen Arbeits- und Herrschaftsfunktionen der Hochschule beruht dagegen auf der Voraussetzung, daß die von ihren Organen erlassenen Regelungen und Maßnahmen die verschiedenen Personenkategorien in verschiedener Weise betreffen, so daß sie eher den Charakter eines dem demokratischen Prinzips fremden sozialständischen Herrschaftsvertrages als den eines von einem einheitlichen Willen gesetzten körperschaftlichen Gesamtaktes hat.«
Wenn Bildung und Kreativität notwendig verschränkt sein müssen, und die Kreativität nur in demokratischen Strukturen ihre volle gesellschaftliche Wirkung entfalten kann, dann ist Bildung in ihrem befreienden Charakter unabdingbar demokratisch.
Bekannt auch, daß Bildung im bürgerlich-demokratischen System längst zur Ideologie erstarrt ist, nicht nur in dem Sinne, daß die Bürger ihren Zöglingen zur Perpetuierung ihrer sozial besseren Stellung die bessere Aus-Bildung zukommen lassen, sondern auch als Legitimation der besseren Stellung über die bessere Bildung; oder abgewandelt: »Daß keiner mit« Bildung »sich abgäbe, der, wie die Bürger sagen, gar nichts davon hätte, ist nicht zu bestreiten, aber doch wieder nicht so wahr, daß eine Bilanz zu ziehen wäre: heute 9. Symphonie gehört, soundso viel Vergnügen gehabt; und solcher Schwachsinn hat mittlerweile als gesunder Menschenverstand sich eingerichtet. Der Bürger wünscht die« Bildung »üppig und das Leben asketisch; umgekehrt wäre es besser. (...) Das falsche Verhältnis zur« Bildung »ist der Angst um das Eigentum verschwistert.« Frappierend also die Nähe eines emanzipatorischen Bildungsbegriffs zu der Definition von Kunst. Allerdings ist die Nähe historisch erklärbar: »Ja ich behaupte: für Adorno ist die Kunst das, was für die linke Intelligenz hundert Jahre lang das Proletariat war - : das wahre Gedächtnis der Geschichte, weil mit allen Leiden und Opfern beladen; berufen den Bann der bürgerlichen Gesellschaft zu brechen, weil außerhalb dieser stehend.« Weder Proletariat, noch Kunst (oder allgemeiner Bildung) sind als konkrete Größen zu sehen, sondern als transzendierendes Prinzip des Widerständigen.
Also doch: Utopie als Ort der Bildung? - Der Bildung ja, aber nicht der Hochschulen als ihres Rahmens. Hat sich der Anspruch der bürgerlichen Schicht als ideologisch erwiesen, so darf er sich nicht in »sozialständischen« Hochschulstrukturen reproduzieren. Insofern ist der Übergang von der Ordinarien- zur Gruppenuniversität als Rahmen eines prozessual verstandenen Bildungsbegriffs nicht ausreichend gewesen. Gerade an der Hochschule, in der kritische Kompetenz zur demokratisch-kommunikativen Vernunft führen sollte, kann Demokratie nicht als bloßes Deckmäntelchen umgetan werden. Warum also kein parlamentarisches Hochschulmodell, das Universitätsrat ('Bundestag'), Rektorat ('Regierung') und Institutsrat ('Bundesrat') nebeneinanderstellt? Warum also keine demokratisch legitimierten Haushaltspläne? Warum also nicht dadurch eine verstärkte inneruniversitäre Öffentlichkeit? Notwendig wäre aber kurzfristig eine Legitimation der Hochschule via Kuratorium und eine schrittweise Einführung parlamentarischer Strukturen.
Keine Bildung kann sich ohne Demokratie entwickeln, aber es kann auch kein demokratisches Bewußtsein ohne einen starken Bildungsbegriff geben.
Utopie als Ort der Bildung (Thorsten Zumloh und Tobias Gombert) Stand: 11. Juni 1996