Alle Wesen retten - na klar!

Bodhisattvas - Eine Einführung

Bodhisattva Avalokiteshvara hat es geschafft: Alle leidenden Wesen sind erlöst! Nach all den Mühen und Tränen hat sie endlich die leidenden Wesen aus dem Kreislauf des Leidens befreit und ins Nirvana geführt. Erschöpft blickt sie zurück - doch nein: Die Welt ist (wieder) angefüllt mit leidenden Wesen, die der Erlösung harren! Aus Trauer und Enttäuschung springt Bodhisattva Avalokiteshvaras Kopf in tausend Stücke. Doch damit sie ihr Werk fortsetzen kann, erhält sie von Amitabha einen neuen. So erzählt es die Legende.

Das Gelübde eines Bodhisattva ist es, all die zahllosen leidenden Wesen zu erretten. "Alle Wesen?", mag man stauend und ungläubig innehalten: "Alle Wesen? Ist das nicht ein bischen zu viel des Guten? Das kann ja gar nicht gehen." Neugierig geworden stellen wir eine ganz einfache Frage: "Was ist das, ein Bodhisattva?"

Manchmal sind Bodhisattvas durch Holzfiguren auf einem Sockel repräsentiert, manchmal ist es eine Metapher für eine Wahrheit, die unseren Horizont übersteigt. Manchmal stehen sie für bestimmte "innere Kräfte", die man erwecken kann, manchmal für transzendente Wesenheiten, die hilfreich zur Seite stehen. Manchmal sind es Verkörperungen bestimmter Eigenschaften des Buddha, - und manchmal fallen alle Möglichkeiten zusammen in einem Menschen, der uns gerade zur rechten Zeit über den Weg läuft.

Das Wort Bodhisattva setzt sich aus den Sanskrit-Begriffen bodhi und sattva zusammen. Bodhi bedeutet Erleuchtung und sattva empfindendes Lebewesen. Ein Bodhisattva bezeichnet also ein empfindendes Wesen, das dem Buddha-Weg folgt und versucht sich zu vervollkommnen und die Erlösung vom Leiden, die Erleuchtung, anstrebt. Aber auf diesem Weg kommt die Einsicht, dass er sich nicht in seine "private" Erlösung retten kann, solange noch so viele Wesen im Leid gefangen sind. Was wäre das auch für eine paradiesische Ruhe, die durch die andauernden Rufe der Leidenden gestört wird. Aus großem Mitleid allen empfindenden Lebewesen gegenüber verzichtet er auf den Eintritt in Nirvana, bis alle Lebewesen errettet sind. Dieser Aufgabe widmet er sein Da-Sein, immer wieder, von Lebensrunde zu Lebensrunde.

Im Mahayana ist dies das "Ideal", dem es nachzustreben gilt, sei es als Mönch, als Nonne oder als Laie. Jeden Tag werden in den Zen-Klöstern und Zen-Zentren die Vier Großen Gelübde rezitiert:

Empfindende Wesen sind zahllos, - ich gelobe, sie alle zu erretten.

Die Täuschungen sind endlos. Ich gelobe, sie alle abzuschneiden.

Die Lehren sind unermeßlich. Ich gelobe sie alle zu erlernen.

Der Buddha-Weg ist unvorstellbar. Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

Welch ein Unterfangen.... Welch Zumutung mag man denken. Oder aber auch: Welch ein Hochmut, zu glauben, man könne alle Wesen erretten.

Im Diamant-Sutra sagt der Buddha: "Wer den Bodhisattva-Weg beschreitet, soll immerzu denken `Ich muss alle Wesen ins absolute Nirvana führen; aber auch wenn alle Wesen ins Nirvana geführt worden sind, so ist in Wirklichkeit trotzdem kein Wesen ins Nirvana geführt worden´. Denn wenn in ihm die Vorstellung eines Wesens, einer eigenständigen Existenz oder einer Persönlichkeit auftauchen sollte, dann ist er kein Bodhisattva."

Wenn der Bodhisattva die empfindenden Wesen wahrnimmt, weiß er, dass er nicht getrennt ist von "allen anderen". Das Leid der anderen ist auch sein Leid. Der Schmerz der anderen ist auch sein Schmerz. Die Erlösung der anderen ist auch seine Erlösung. Wir hängen zusammen am Stock, der uns trägt. Kein abgetrenntes ICH. Welche Welle im weiten Meer könnte sagen, ICH rette DICH? "Alles miteinander teilend, leben wir mit allen Wesen des Universums als ein Körper, ein Herz und ein Geist in gemeinsamer harmonischer Tätigkeit", formuliert es die koreanischen Zen-Meisterin Dae-Haeng Keun Sunim.

Das Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da.

Die Taten gibt es, doch kein Täter findet sich.

Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Menschen.

Den Pfad gibt es, doch keinen Wanderer sieht man da.

Vis. XVI:

In der buddhistischen Ikonographie findet sich eine Vielzahl unterschiedlicher Darstellungen "klassischer" Bodhisattvas, die uns als ermutigende Erinnerung vor Augen stehen können. Vier Bodhisattvas seien hier erwähnt:

  • Manjusri (chin. Wenju, jap. Monju, kor. Mun Su), der Edle, verkörpert die Weisheit und wird zumeist mit einem die Unwissenheit durchschneidenden Schwert und/oder einer Lotusblume dargestellt, oder auf einem gezähmten Löwen reitend.
  • Samantabhadra (chin. Puxian, jap. Fugen, kor. Po Hión), der Verdienstvolle und Gütige, verkörpert die Gelübde, das Wissen, den strahlenden Gebrauch der Weisheit. Er ist der "Bodhisattva der großen Taten" und Wächter des Wissens und wird zumeist mit zusammengelegten Handflächen auf einem Elefanten mit sechs Stosszähnen dargestellt oder, in der Thangka-Malerei, in tantrischer Vereinigung mit der Weisheit (Prajna).
  • Avalokitesvara (chin. Guanyin, jap. Kannon, Kanzeon, kor. Kwan Se Um, tib. Chenrezig), der Erhörer der Schreie in der Welt, repräsentiert das Mitleid. Er wird sowohl in einer weiblichen als auch in einer männlichen Form dargestellt, oft mit 11 Köpfen oder 1000 Armen. Die Dalai Lama gelten in Tibet als Verkörperung dieses Bodhisattvas.
  • Kshitigarbha (chin. Ti Tsang, Di Zang, jap. Jizo, kor. Tchi Tchang, Ji Jang), der Erden-Schoß-Bodhisattva, hilft allen leidenden Wesen in den sechs Höllen und ist Beschützer der Kinder, der Ungeborenen und der Reisenden (insbesondere von dieser Welt in die nächsten Leben). Dargestellt wird der "Bodhisattva der vielen Gelübde" als kahlgeschorenener Mönch mit Wanderstab und einem Juwel.

Bodhisattvas werden zwar gerne auf den Sockel gehoben, es sind jedoch keine Gottheiten, die irgendwo hoch oben im Himmel zu finden wären, es sind keine Götzen, denen wir Opfer oder unsere Gebete darbringen müßten. Wenn man genau hinschaut - Bodhisattvas müssen nicht entrückt sein in ferne Zeiten und andere Welten: Vielleicht Raymond Maximilian Kolbe, der sich als Häftling 16670 für seinen Mithäftling Franciszek Gajowniczek im Konzentrationslager Auschwitz zur Ermordung anbot, vielleicht Agnes Gonxha Bojaxhiu, die sich als Mutter Teresa unermüdlich den Kranken und Sterbenden widmete, vielleicht der Dalai Lama von Tibet oder Mahatma Ghandi in Indien, die sich mit friedlichen Mitteln für die Befreiung ihres Volkes eingesetzt haben.

Staunend mag man aufschauen: unerreichbar in die Ferne gerückte Vorbilder. Nur ein schönes, aber entmutigendes "Ideal"? Wie kann man mit diesen unmöglichen Vorsatz umgehen? Wie ihn mit Leben füllen?

Auf die Frage, wie er mit dem Bodhisattva-Gelübde umgehe, antwortete Zen-Meister Wu Bong: "Wie kann ich Dir helfen?"

Wie kann ich Dir helfen?! Ja, - die eigentliche Frage war doch vielmehr: "Wie kann ich denn diesen Weg gehen?" Ohne Anleitung und ermutigende Hinweise erfahrender Lehrer kann man sich leicht verlieren. Und wirkliche Bodhisattvas kann man mitten unter uns finden - wenn man nur die Augen aufmacht. Vielleicht ist es die Kinderkrankenschwester, der Lehrer, der Bäcker, die Verkäuferin oder der Müllmann. Die Ausgestaltung der Wege mag sich unterscheiden, doch warum sollen wir es nicht selber sein, die den Mut finden, den ersten Schritt zu tun?

So unterschiedlich wie die figürlichen Darstellungen der Bodhisattvas, so unterschiedlich wie ihre Wege und ihre Widmungen erscheinen mögen, so unterschiedlich sind auch die Zugänge zum Bodhisattva-Weg und dem Bodhisattva-Gelübde, die die Autoren der unterschiedlichen Traditionslinien in ihren Beiträgen anbieten: Erläuternde Essays, Wegbeschreibungen, Stolpersteine, Visionen, Gemaltes, Verdichtetes - oder einfach nur Schweigen.

Manchmal hat man sich seine Bilder gemacht, wie das Bodhisattva-Ideal gelebt werden sollte: Sozial engagiert in den Krankenhäusern, in den Gefängnissen, in den Armenvierteln unserer Welt. Auch diesen Weg gibt es. Das ist der naheliegendste Weg. Aber es gibt auch den Weg der Unterweisung, der Ermutigung. Auch hier drückt sich das Gelübde aus, alle leidenden Wesen zu erlösen. Augen öffnen auf ein Wort hin und Anpacken wo Not ist, sind keine unterschiedliche Wege.

Die hier vorgestellten Darstellungen können Anregung sein, bestimmte Qualitäten der Bodhisattva-Weges oder bestimmte Aspekte des Bodhisattva-Gelübdes, wie sie im Zen durch die Vier Großen Gelübde repräsentiert sind, näher zu hinterfragen und einen eigenen Zugang zu einem wunderbaren Vorsatz zu entdecken: "Empfindende Wesen sind zahllos, - ich gelobe, sie alle zu erretten."

Hier treffen sich die Ideale des Buddhismus mit denen des Christentums (vielleicht sogar mit denen aller Wahrheitswege), hier ist die kleinmütige Trennung aufgehoben: Anpacken, wo Hilfe nötig ist, ohne die Hand aufzuhalten; anpacken, weil der Nächste unserer Zuwendung bedarf, egal ob er Christ, Buddhist, Moslem, Jude, Hindu oder Atheist ist - einfach, weil er ein Mensch ist, der leidet. So wie in dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, in dem sich ein Reisender aus dem Land Samaria eines von Dieben Zusammengeschlagen annimmt, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass ein Mann aus Samaria nicht mit Juden zu verkehren hat. Er war offen für die Aufgabe des Augenblicks, ohne nach Richtig oder Falsch zu fragen.

Sogyal Rinpoche meinte einmal, wir bräuchten Bodhisattva-Richter, Bodhisattva-Künstler und Bodhisattva-Politiker, Bodhisattva-Ärzte und Bodhisattva-Volkswirtschaftler, Bodhisattva-Lehrer und Bodhisattva-Wissenschaftler, Bodhisattva-Techniker und Bodhisattva-Ingenieure. Wir bräuchten Bodhisattvas, die sich überall in unserer Gesellschaft bewußt als "Kanäle" des Mitleids und der Weisheit einsetzen, die daran arbeiten, die Einstellungen und das Handeln sowohl von sich selber als auch der Mitmenschen zu verändern - zum Erhalt unserer Welt und für einen bessere Zukunft.

Der Erwachte ist nicht irgendwo hoch oben...

Steh Du auf und geh!

© Arndt Büssing (2002)