Ich werde kein Leben töten.
Roland Wöhrle-Chon, Ji Do Poep Sa
Das erste Gelübde im Buddhismus – Ich gelobe, kein Leben zu töten – hat universellen Charakter und findet sich in allen Religionen. Es bedeutet zunächst, kein menschliches Leben zu töten. Das ist das oberste Gebot des Humanismus, das, seitdem es zivilisierte menschliche Gemeinschaften gibt, ausnahmslos als Gesetz gilt. Schon die uralte goldene Regel macht das deutlich: Was du nicht willst, das man dir tu´, das füg´ auch keinem andren zu.
Wenn wir aber genauer hinschauen, dann müssen wir erkennen, dass dieses Gebot bis in die Gegenwart erstens nicht befolgt wird, und zweitens eine Menge Fragen aufwirft: Was ist menschliches Leben? Ist eine menschliche Stammzelle bereits ein Mensch? Und was ist ein dreimonatiger Fötus? Wie ist es mit der Sterbehilfe: Dürfen wir einem Todkranken, der den erlösenden Tod ersehnt, helfen zu sterben? Dürfen wir uns selbst töten? Darf ein Staat töten, etwa im Krieg oder auf dem elektrischen Stuhl? Dürfen wir aus Notwehr töten? Die Liste der Fragen und Probleme zu diesem Themenkreis läßt sich weiter verlängern. Wenn sich aus dem Gebot, kein menschliches Leben zu töten, bereits so viele Probleme ergeben, über die sich Philosophen, Staatsrechtler, Ethikkommissionen, Religionsvertreter, Gelehrte oder die Justiz streiten, wie sollten wir dann dieses Gebot verstehen und es fertig bringen, es zu befolgen? Tatsächlich zieht sich durch die Geschichte des Homo sapiens eine Blutspur, die verdeutlicht, dass dieses erste und wichtigste Gebot für den Menschen keineswegs selbstverständlich ist.
Wie sollte es in Anbetracht dieser offensichtlichen Unfähigkeit des Menschen möglich sein, ein Gelübde zu halten, das besagt, kein Leben überhaupt zu töten? "Ich gelobe kein Leben zu töten" – keine Tiere, keine lästigen Mücken, keine ekligen Spinnen, ja sogar nicht einmal eine Pflanze. Wenn es stimmt, dass das Gelübde im Buddhismus eine so weite Bedeutung hat, wie können wir dann auf dieser Welt leben?
Damit sind wir bei den wichtigen Fragen: Was ist Leben? Wie sollen wir leben? Wie verhalten wir uns anderen Lebewesen gegenüber? Konkret: Wer bin ich? Was ist meine Aufgabe in diesem Leben auf dieser Welt? Wie begegne ich dem Du? Das sind die wichtigen Fragen, mit denen jeder Mensch konfrontiert ist. Wie lauten unsere Antworten? Was hat sich der Buddha dabei gedacht, als er das erste Gelöbnis – nicht töten – verkündete?
Leben und Tod, Ich und Du, richtig und falsch – das alles sind Konstrukte unseres Denkens. Der sechste Patriarch sagte: "Ursprünglich ist nichts". Ich und Nicht-Ich sind beide gleichermaßen leer. Sie sind eins. Auf dieser Grundlage bin Ich mit dem Du immer schon verbunden. Innen und Außen kommen zusammen. Doch die meisten von uns leben in einem Bezugssystem, das Ich-Mein-Mir als Ausgangspunkt und ins Zentrum setzt. Das ist der große Irrtum. Wenn wir erkennen, dass alle Lebewesen miteinander verbunden sind, dass wir alle wesenhaft dieselbe Natur haben, wie könnten wir dann Leben töten? Das Nicht-Töten-Ich ist das große Ich, das erwachte Ich, es ist Buddha. Das ist die Bedeutung dieses ersten Gelübdes: Aufwachen! Buddha werden! Dann wird alles wahr. Unser Leben wird wahr: Alles, was wir sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen oder denken: alles ist, so wie es ist, vollständig. Unser Tun wird wahr: Wir tun, was nötig ist zu tun und übernehmen Verantwortung dafür. Wenn jemand hungrig ist, gib ihm zu essen. Wenn jemand traurig ist, tröste ihn. Wenn jemand Not hat, hilf ihm. Kein Leben zu töten heißt, den Egozentrismus zu überwinden und für das Du zu erwachen. Es bedeutet miteinander-sein und füreinander-sein. Recht verstanden beinhaltet nicht töten dann auch nicht verletzen, weder den Körper, noch die Seele; weder durch den Körper, noch durch Worte oder Denken. Hier leuchtet eine Haltung auf, die wahrhaftige Menschlichkeit offenbart, wahre Liebe und großes Mitgefühl.
Zum Schluss ein Kong-an, das uns hilft, Weisheit und Mitgefühl zu entfalten und die Bedeutung des Gelübdes zu erfahren:
Als einst die Mönche von der Osthalle des Klosters mit denen der Westhalle um eine Katze stritten, hielt Meister Namjon die Katze hoch und sprach: "Ihr Versammelten alle, wenn einer ein Wort sagen kann, werde ich sie retten; wenn keiner es sagen kann, werde ich sie töten." Keiner der Versammelten vermochte zu antworten. So tötete Namjon die Katze.
Wie kannst du also diese Katze retten, die Meister Namjon bis auf den heutigen Tag empor hält?
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Roland Wöhrle-Chon, JDPSN, BerlinAlle Rechte vorbehalten.